In Polen lebte einst vor dem Krieg ein Bibliothekar. Nie hatte er eine Ausbildung genossen. Er, der Sohn eines einfachen Buchhalters aus Plock, war in seinen Beruf hineingewachsen. Er stieg zum Leiter der Grosser-Bibliothek in Warschau auf. Als die Wehrmacht einmarschierte, lehnte er das Visum für die USA, das ihm angeboten wurde, ab, denn er wollte auf seine Frau in Wilna, wohin er geflohen war, warten. Sie wurde jedoch von den Sowjets verhaftet. Herman Kruk sollte in Wilna, im Jerusalem des Nordens, zum Begründer der Ghettobibliothek werden. Zugleich begann er, eine Chronik des Ghettos zu schreiben. Er versteckte die Aufzeichnungen in dreifacher Kopie. Kruk wurde im September 1943 nach Estland deportiert, zunächst ins Arbeitslager Kooga, im Sommer 1944 nach Lagedi. Selbst dort setzte er sein Tagebuch fort. Am 17. September 1944, am Tag vor der Liquidierung desLagers und vor seiner Ermordung, schrieb Herman Kruk die letzten Sätze und vergrub seine Aufzeichnungen, die nach der Befreiung gefunden wurden. – Wozu mitten im Ghetto, während die Menschen hungern und sterben, einen eue Bibliothek errichten? Herman Kruk schrieb: „Wilna ertrank in jüdischem Blut. Da musste es doch ganz und gar weltfremd wirken, an Bücher und Lesen zu denken.“ Kruk schrieb: „Im Ghetto Bücher lesen – mit dieser Idee konnte kaum jemand etwas anfangen. So sah es jedenfalls am 8. September (1941) aus, als die Bibliothek beschlagnahmt wurde. Als aber die Bibliothek am 15. September für die Ghetto-Leser eröffnete, zeigte sich, dass die früheren Annahmen weit von der Wirklichkeit entfernt gewesen waren: Die neuen Ghettobürger drängten sich wie durstige Lämmer nach den Büchern. Die vielen schrecklichen Ereignisse konnten weder die Kinder noch einen Großteil der Erwachsenen abhalten.“
Am 13. Dezember 1942 wurde die Ausleihe des hunderttausendsten Buches gefeiert. Außenstellen im Gefängnis, im Jugendklub und in Fabriken mussten eingerichtet werden. Die Bücher wurden katalogisiert. Der Bestandfußte auf jenen Bänden der ehemaligen Bibliothek, die nicht von den Besatzern geplündert worden waren, doch die Sammlung wurde durch Werke aufgestockt, die ins Ghetto geschmuggelt werden konnten. Der Lesesaal war an sieben Tagen in der Woche geöffnet. Kruk schreibt: „Der Mensch erträgt Hunger, Not und Schmerz, aber nicht die Einsamkeit. Stärker noch als unter normalen Bedingungen ist er in Notzeiten auf Bücher angewiesen.“
Ist hierin auch der Grund zu finden, der meine Mutter, Schoschana Rabinovici, als Kind antrieb, im Ghetto und selbst im Lager Gedichte zu verfassen? Auf Packpapierfetzen schrieb sie, was ihr und den Ihren widerfuhr. Auf Jiddisch und in hebräischer Schrift.
Im Konzentrationslager Kaiserwald war es auch, wo sie, der von den Mördern das Deutsche buchstäblich eingebläut wurde, deutsche Lieder zu singen lernte. Jüdische Frauen aus Deutschland saßen mit ihr abends zusammen und lehrten sie alte Weisen, trugen ihr, mitten im KZ, die Lyrik der deutschen Klassik vor. Hier hörte sie Heines „Loreley“ zum ersten Mal und stimmte mit ein in die Strophen, obgleich sie wohl nicht darüber rätseln musste, was es bedeuten sollte, dass sie so traurig war. – Die Besinnung auf das Geistige war eine Strategie des Überlebens und ein Akt des Aufstands gegen die Vernichtung. Die Mörder hatten bereits im Ghetto die jüdische Erziehung verboten. Herman Kruk kämpfte dagegen an, und alle, die damals Bücher einschleusten, wagten für das Schmuggeln von Literatur nicht weniger als ihr Leben. Noch gefährlicher war jedoch, die Verbrechen festzuhalten, um von ihnen zu künden. Kruk war kein Partisan, doch an Mut fehlte es ihm, der Menschen und Bücher rettete, nicht. Allein die Arbeit im Archiv war ein Wagnis, dessen Entdeckung einem Todesurteil gleichgekommen wäre.
Die Massenmörder wollten die Opfer namenlos machen. Nichts sollte an die Toten gemahnen, und so wird, wer das Leid der Verfolgten nun ausblenden will, zum Komplizen der Untat. Die Partisanen hatten sich in ihrem zumeist aussichtslosen Kampf an die Nachwelt gewandt. Sie wollten zumindest im Gedächtnis der kommenden Generationen nicht ausgelöscht sein. Das Schreiben und das Archivieren waren von Anfang an Teil dieses Widerstandes, und nach dem Krieg waren es ehemalige Widerstandskämpfer und Widerstandskämpferinnen, die sich mühten, die Erinnerung aufrechtzuerhalten. So sind Widerstand und Erinnerung ineinander verschränkt.
Den Krieg gegen Literatur, die sie als jüdisch oder verjudet bezeichneten, begannen die Nazis bekanntlich bereits im Frühjahr ihrer Machtergreifung. Die Bücherverbrennungvom 10. Mai 1933 war eine Aktion der Deutschen Studentenschaft und der öffentliche Festakt zur Verfolgung aller jüdischen, marxistischen und pazifistischen Schriftsteller, ja, des kritischen Geistes schlechthin. Was in Berlin begann, sollte wochenlang in 22 Universitätsstädten fortgesetzt werden. Einzigartig war das Ritual der Barbarei, das überall, ob in Dresden, Rostock oder München, demselben Muster zu folgen hatte, doch Scheiterhaufen für Dichtkunst waren nichts Neues und werden auch heute noch errichtet. Sie brannten im Altertum, im Mittelalter und in der Neuzeit. Diese Hinrichtungen der Literatur wurden in China vollzogen, von der Kirche und von Königen angeordnet, doch auch von so manchen Revolutionären durchgeführt.
Der berühmte Satz von Heinrich Heine: „Das war ein Vorspiel nur, dort wo man Bücher verbrennt, verbrennt man auch am Ende Menschen“, er richtete sich nicht, wie oft angenommen, gegen das Autodafé am deutschnationalen Wartburgfest 1817, sondern entstammt seinem nur wenige Jahre später erschienenen Stück „Almansor“ und handelt von der Einäscherung des Korans nach der Eroberung des maurischen Granada durch christliche Ritter.
Im Namen der einen heiligen Schrift wurde die andere angezündet, und dieser Feuerkreis des Hasses ist bis in unsere Tage nicht durchbrochen. Unmöglich ist mir zu übergehen, wie in China immer wieder Bücher und andere Medien oppositioneller Gruppen vernichtet werden. Ebenso wäre es unverzeihlich, nicht an die Roten Khmer in Kambodscha zu erinnern, Bücher wurden abgefackelt und Lehrer ermordet, jedes Zeichen eigenständigen Geistes sollte getilgt werden. Ich denke an die Bücherverbrennung des Romans „Die satanischen Verse“ von Salman Rushdie, 1988 erschienen, auch an die Fatwa gegen den wunderbaren Romancier und daran, wie sein italienischer Übersetzer Ettore Capriolo bei einem Messerangriff verletzt, der japanische Hitoshi Igarashi erstochen und der norwegische William Nygaard, angeschossen wurde.
1998 zerstörten die Taliban in Kabul die Druckerei, das Museum und die Bücherei der Nasir-i Khuschra Stiftung und ließen dabei nicht ein Werk übrig. Nicht einmal eine tausendjährige Ausgabe des Korans wurde verschont, denn die Eiferer der Heiligkeit lassen keine andere Lesart und keine weitere Darstellung zu. Die Auflistung der Bücherverbrennungen zieht sich wie ein roter Faden oder vielleicht eher wie eine Zündschnur durch die Geschichte. Verbrannt wurden etwa homoerotische Gedichte vom ägyptischen Kulturministerium, das Tagebuch der Anne Frank durch Neonazis, der Koran durchfundamentalistische Christen und immer wieder die Bibel in der Islamischen Republik des Iran.
Die Mörder der dschihadistischen Gruppe IS hassen indes alle Kultur. Sie feiern stolz das Zerstören von Bibliotheken, von Kirchen und von Monumenten. Sie schlachten Unbeteiligte vor laufender Kamera ab. Sie zeigen ihre Massenhinrichtungen auf Youtube. Sie brüsten sich mit der sexuellen Versklavung von Frauen. Sie zelebrieren Enthauptungen. Auf den Videos ist nicht nur zu sehen, wie sie Bücher verbrennen, sondern auch Menschen. Sie präsentieren der Presse Ausbildungslager für Kindersoldaten, als wären es Waisenhäuser oder Tagesschulen.
In diesem Frühjahr zündeten diese Terrorbanden die Bibliothek von Mossul an. Ein Bibliotheksmitarbeiter erklärte, es seien etwa 112.000 Manuskripte und Bücher zerstört worden, wobei die Unesco viele davon als Raritäten bewertet. Von 8000 Jahre alten Schriften ist zu lesen gewesen.
Dies alles geschieht im Namen heiliger Texte. Es geht den Dschihadisten darum, nur eine Auslegung gelten zu lassen. Sie meinen, der Himmel auf Erden müsse errichtet werden, und zwar auf Teufel komm raus. Sie sind davon überzeugt, das heilige Wort, ja, jeder einzelne Buchstabe stamme von Gott, weshalb es nur Lästerung sein könne, es neu zu deuten. Sie zerstören die einstigen Tempel, die Überreste früherer Religionen, auch die Vorläufer des eigenen Glaubens, weil sie die Kultur und die Geschichte an sich nicht anerkennen wollen. Die Weigerung, das Sakrale zu historisieren, eint die Fundamentalisten aller Konfessionen, denn sonst müssten sie zugeben, was offensichtlich ist. Jedes heilige Buch war zu Beginn eine Ketzerschrift. Was einst Bekenntnis hieß, wird nun als Aberglaube abgetan. Die Überlieferung ist nicht so alt, wie sie vorgibt zu sein.
Die Dschihadisten träumen von einer frühen Zeit, die es so nie gab. Die Weisen, denen sie nachbeten, waren in ihrem Glauben noch aufgehoben. Sie galten als Vordenker ihrer Epoche. Die Eiferer von heute leben gegen die Welt und die Gegenwart an. Sie rezitieren das eine, um nicht das andere zu lesen. Die Bibliothek ist hingegen dadurch charakterisiert, über mehr als bloß ein Buch zu verfügen. In der Bibliothek sind alle Formate vorhanden, und es führt ein Band zum nächsten, und jede weitere Lektüre kann das, was ich bisher las, in ein neues Licht tauchen. Hier ist nicht nur das Gute, das Erbauliche gelagert. Nein, die Bibliothek lebt davon, auch die Nebenstimmen und die Gegenstimmen anzuhäufen, die Dominante und den Kontrapunkt, das Profane und das Bigotte, das Eklektische und das Obszöne, die Handschrift und die Radierung, die Klassik, die Avantgarde und den Kitsch. Keine Sprache ist ausgeschlossen.
Das Lesen an sich strebt nach anderem als das Deklamieren und das Psalmodieren. Die Schrift, ob es nun eine buddhistische Sutra, ein biblischer Psalm oder eine muslimische Sure ist, mag täglich heruntergeleiert werden, denn auf diese Weise finden Gläubige zur Transzendenz, zur Meditation, zum Trost oder zur Harmonie, doch ganz anderes geschieht, wenn wir, Fromme oder Ketzer, etwa einen Roman lesen. Selbst wenn wir ihnbereits zum fünften Mal durchgehen, erleben wir alles darin auf eine immer neue Art. Wir suchen das Fremde, wobei das Fremde wohl immer eine Frage der Definition ist, denn die beste Art, das Fremde loszuwerden, ist bekanntermaßen: es kennenzulernen.
Ich erinnere mich an eine japanische Professorin der Judaistik, die mich nach einem Vortrag in Kobe ansprach, und als ich meine Begeisterung über ihr schönes Deutsch ausdrückte, erklärte sie, in Heidelberg studiert und in New York gelehrt zu haben, und als sie in der Subway von Manhattan gesessen sei, den aufgeschlagenen Talmud auf den Knien, sei sie von einer älteren Dame gefragt worden. „Sorry, where are you from?“ Sie habe geantwortet: „I am from Japan.“ Worauf die alte Frau meinte: „Funny, Japanese looks just like Hebrew!“
Ja, der Leser kann sich auch der Thora und dem Talmud auf immer neue Weise nähern. Wer will,der kann in den heiligen Schriften ein literarisches, ein historisches oder ein theologisches Werk sehen, das immerzu offenbleibt für neue Interpretationen. Es ist die Vielseitigkeit der Schrift, die so zelebriert wird. Mit jeder zusätzlichen Perspektive gewinnt sie an Gestalt, und auch so mancher Geistliche genießt es, über die verschiedenen Auslegungen zu diskutieren. Immerhin wird die Bibel mit gutem Grund das Buch der Bücher genannt.
Die Absage an das weite Spektrum von Lesarten der verschiedenen heiligen Schriften kennzeichnet nicht bloß die so unterschiedlichen und miteinander verfeindeten Eiferer des Glaubens, sondern ebenso die Fanatiker der gottlosen Ideologien. Alle wollen sie uns glauben machen, das Heil liege in der Vernichtung, in einer Apokalypse, und es ist deshalb kein Zufall, wenn Vertreter dieser sehr unterschiedlichen Weltanschauungen einander so ähnlich werden, wenn sie kritische Bücher ablehnen, wenn sie unabhängige Intellektuelle verfolgen, wenn sie in dem Fremden eine Gefahr wittern, in dem Homosexuellen eine Bedrohung, in jeder unabhängigen Frau die eigene Entmannung und in dem Juden das Übel der ganzen Welt sehen. Sie wollen alle eine Ursprünglichkeit bewahren, die bloße Illusion ist und nur die eigene Ignoranz beweist.
Vom einzig wahren Charakter des einen Islam wissen uns die radikalen Islamisten und die rechtsextremen Rassisten gleichermaßen zu schwatzen. Beide wollen, aus gegensätzlichen Gründen, die Vielseitigkeit der Schrift nicht gelten lassen. Wie skurril, wenn einer, der vor Kurzem noch eine antisemitische Karikatur veröffentlichte – ein Bankerjude im „Stürmer“-Stil, mit Hakennase und Judensternen als Manschettenknöpfe –, nun plötzlich Sorgen äußert, mit den Flüchtlingen käme der Antisemitismus nach Österreich. Unter dem Vorwand, Kritik an den Mullahs und an den Dschihadisten zu üben, werden die Muslime pauschal diffamiert. Dabei müsste, wer gegen den islamistischen Terror kämpfen will, zuallererst jenen Moslems helfen, die unter ihm leiden.
Das ist kein „Kampf der Kulturen“, der das Abendland von allen Moslems schlechthin trennt, und er darf es auch nicht werden, denn würden wir uns ihm hingeben, hätten wir schon verloren – und zwar alles, worum es uns geht und was wir sind. Ja, der Dschihadismus hat uns den Krieg erklärt, und wo notwendig ist er politisch, polizeilich und militärisch zu führen. Aber weder das Ressentiment noch die Leugnung des Konflikts helfen uns weiter. Es gilt, die Freiheit zu verteidigen, indem sie eben nicht preisgegeben wird.
Nicht den „Kampf der Kulturen“, sondern jenen für mehr Kultur, gegen die Unkultur heißt es aufzunehmen. Die Bibliothek und die Bücherei sind die Orte, in denen ich der Vielseitigkeit der Schrift begegnen kann, doch nicht nur deshalb, weil hier ein Buch sich in all den anderen spiegelt und von ihnen auch erhellt wird, nein, vielmehr ist die Bibliothek ein Ort der allgemeinen und inneren Sammlung zugleich. Hier finde ich zu mir, wenn ich auf die anderen Menschen stoße, die sich ebenfalls in einen Text versenken. Es ist ein Mysterium. Die Lektüre steckt an, und die Augen der anderen schärfen meinen Blick. Ich trete ein und komme zur Ruhe, womit ich nicht unbedingt die Stille meine, die ich brauche, um mich auf ein Buch einlassen zu können. Nein, die Bibliothek bietet mir neben der Konzentration auch die Zerstreuung. Ich treffe auf andere, die ebenfalls ihren Forschungen nachgehen, die mit mir bei einem Kaffee eine Frage erörtern wollen oder ein Buch besprechen. Bibliotheken sind Räume der Kommunikation, der Sinnesfreude, des Geisteswitzes und der Lebenslust.
Das Lesen wird gerne propagiert, doch gleichzeitig klagt jeder darüber, nicht genug Zeit zu haben, um sich der Lektüre widmen zu können. In dem Roman „Fahrenheit 451“ beschreibt Ray Bradbury eine Gesellschaft, die alle Literatur verbietet. Wird ein Buch entdeckt, rückt die Feuerwehr aus, um es in Brand zu legen. Dabei ist esnicht so sehr die Diktatur, die das Lesen unterdrückt. Nein, die Menschen geben sich selbst dem Fernsehen und den Drogen hin, nur wenige Dissidenten ziehen sich in den Wald zurück, um sich hier die gelesenen Bücher einzuprägen.
Es ist allerdings beinah unmöglich, gar kein Buch zu lesen, und vollkommen undenkbar, alles zu lesen, was eine Stadtbücherei oder gar eine Bibliothek bietet. Das erinnert an den General Stumm aus Musils „Mann ohne Eigenschaften“, der – angesichts der dreieinhalb Millionen Bände in der Hofbibliothek – den Bibliothekar fragt, wie er sich denn in diesem Tollhaus der Überfülle auskenne. Der Bibliothekar antwortet: „Sie wollen wissen, wieso ich jedes Buch kenne? Das kann ich Ihnen nun allerdings sagen: weil ich keines lese!“ Wer sich auf den Inhalt einlasse, sei als Bibliothekar verloren. Er lese deshalb nur die Kataloge.
Wie wunderbar sind doch die großen Bibliotheken! Sie bergen mehr Bücher, als ich je lesen könnte, verfügen über herrliche Lesesäle, über verlockende Präsenzbestände und über die neuesten Zeitungen, aber keine von ihnen nimmt Platz in meinem Zuhause ein oder muss von mir abgestaubt werden.
Die Bibliotheken und die Büchereien verführen mich zum Lesen, denn es ist das Buch, das mich lehrt, mich in andere Menschen hineinzudenken, um mich dadurch besser zu verstehen. Ich kehre verwandelt aus einem Buch in die Wirklichkeit zurück. Ich werde dadurch zu einem anderen, und zugleich werde ich zu mehr von mir.
Die Büchereien sind Stätten der Begegnung und des Austausches. Sie sind offen für alle, bieten Schutz und Platz für jene, die nicht – oder noch nicht – in die Bibliothek finden. Sie sind unser Büchereck ums Eck. Wir bringen ein Buch und leihen uns ein neues aus. Es ist ein Geben und Nehmen. Und es geht hier nicht nur um Bücher, ob Lexika oder Romane, Fachwerke oder Lyrikbände, Comics oder Gebetsbreviere. Auch Filme und Musikalben, Schulhilfen und Spiele werden ausgefolgt. Zugleich werden hier Malkurse, Buchpräsentationen, Workshops, Sprachseminare und, wer hätte das gedacht, Lesezirkel abgehalten.
Die Bibliotheken und die Büchereien sind Kraftwerke der Integration, und dabei meine ich nicht bloß das, was im Zusammenhang mit Asyl und Migration in den Medien diskutiert wird, denn die Integration einer Gesellschaft kann nur gelingen, wenn sie nicht das Sonderprogramm für die Andersartigen bleibt. Sonst würde mit diesem Begriff nicht der Zusammenschluss, sondern die Ausgrenzung vorangetrieben. Spracherwerb, Deutschkenntnisse, Schreibfertigkeit sind nicht nur für jene wichtig, die nicht in Österreich geboren wurden.
Es braucht die Bibliotheken und die Büchereien. Wer von den Freiheiten und den Werten Europas redet, darf nicht bei ihnen sparen. Sie sind die Festungen unserer Freiheit und die Festräume unserer Fantasie. Hier leben wir die Aufklärung und die Menschenrechte. Hier gehen wir in die Offensive gegen den Terror und gegen die Scharfmacher. Die Bücher machen uns zu Freischärlern der Inspiration und zu Rebellen des Eigensinns. Mit ihnen stehen wir bereit gegen die Einäugigkeit und gegen die Ignoranz – wohl im Sinne all dessen, wofür schon der Bibliothekar Herman Kruk wirkte. Mit ihnen bezeugen wir die Vielseitigkeit der Schrift. ■