Zu dem Pianisten Michael Korstick von Sascha Selke
Wenige Beethoven-Interpretationen wurden so bejubelt wie Michael Korsticks Sonateneinspielungen. Seine radikale Lesart wirbelt Staub auf im Klassik-Establishment und sorgt für leidenschaftliche Diskussionen. Korstick beweist eindringlich, dass absolute Notentreue nicht das geringste mit blutleer-unpersönlicher Wiedergabe zu tun haben muss. Jahrelange intensive Beschäftigung mit dem Werk und überlieferten Dokumenten des Bonner Meisters führten Michael Korstick zu einer beispielhaft verinnerlichten Interpretation der wichtigsten und formbildenden Klavierzyklusses klassischen Epoche
Überraschungsfaktor 120
Immer wieder wird der Pianist Michael Korstick von erstaunten Lesern seiner Vita zu der Tatsache befragt, dass sein Repertoire die unglaubliche Zahl von inzwischen gut 120 Werken für Klavier und
Orchester umfasst. Seine ironische Antwort, man müsse „eben früh anfangen“, kratzt da nur an der Oberfläche.
Alles begann mit einer Schallplatte von Mozarts d-Moll-Konzert, die der Elfjährige als Geburtstagsgeschenk bekommen hatte. Wenige Wochen später staunte die Klavierlehrerin des Dreikäsehochs (der
kurz zuvor mit kleineren Stücken von Bach und Schubert einen ersten Preis im Wettbewerb „Jugend musiziert“ gewonnen hatte) Bauklötze, als ihr eigenwilliger Schützling eine „Überraschung“
ankündigte und ihr den kompletten Solopart dieses Mozart- Konzerts auswendig vorspielte. Wenig später wiederholte sich das Szenario, diesmal mit Beethovens C-Dur-Konzert.
Sechs Jahre (und einige weitere Überrumplungen) später wurde Korsticks erster professioneller Lehrer, Jürgen Troester, fassungsloses Opfer einer ähnlichen „Überraschung“: Am Ende des Sommers 1972
spielte ihm Korstick als „Zugabe“ zu den aufgegebenen – weil pädagogisch für angemessen befundenen – Mozart-Konzerten KV 459 und KV 491 beide Klavierkonzerte von Brahms vor!
Kurz nach seinem 19. Geburtstag erzählte Korstick seinem Mentor Günter Wand stolz, er habe gerade zum ersten Mal mit dem Hochschulorchester ein Klavierkonzert gespielt. Nachdem Wand freundlich
interessiert gefragt hatte: „Was haben Sie denn gespielt, einen Mozart?“, quittierte er die Antwort: „Nein, Brahms, B-Dur“ mit einem überraschten „Donnerwetter!“
Als Michael Korstick als Student der New Yorker Juilliard School seine ersten Wettbewerbserfolge erzielt hatte und erste Konzertangebote erhielt, blieb auch sein dortiger Lehrer, Sascha
Gorodnitzki, nicht von gewissen „Überraschungen“ verschont. Nachdem Korstick unangekündigt Tschaikowskys b-Moll-Konzert in die Stunde mitgebracht und vorgespielt hatte, meinte Gorodnitzki, das
sei „not bad at all“, für ihn bereits eine höhere Form des Lobes, und er war bass erstaunt, als sein Eleve ihm etwas schuldbewusst gestand, er habe das Stück gerade als Folge eines kurzfristigen
Angebots einstudiert und mit Orchester gespielt, dies seinem Lehrer aber verheimlicht, um das mit Sicherheit zu erwartende Verbot eines solchen Vabanquespiels zu umgehen.
Am Ende seines Studiums wies Korsticks Repertoire bereits 59 Klavierkonzerte auf – mit der Konsequenz, dass beim Erscheinen der Künstler- und Repertoireliste des Förderprojekts „Konzert des
Deutschen Musikrats“, in das Korstick als Preisträger aufgenommen worden war, ihm dieses Repertoire zunächst niemand glauben wollte. Aber das Schicksal spielte Schiedsrichter: Durch zahlreiche
Einspringer, manche davon buchstäblich über Nacht, konnte Korstick den Beweis antreten und erwarb sich schnell den Ruf eines „Feuerlöschers“. Die stetig wachsende Zahl von Orchesterengagements
führte zu einer konstanten Repertoireverbreiterung.
Die naheliegende Frage, ob er über ein fotografisches Gedächtnis verfüge, verneint Korstick; trotzdem machte es ihm eine rasche Auffassungsgabe möglich, Stücke wie Schubert/Liszts Wanderer-
Fantasie, Prokofieffs Viertes Klavierkonzert oder Szpilmans Concertino innerhalb weniger Tage auswendig zu lernen und in Orchesterkonzerten zu spielen. Was fasziniert ihn derart an der Literatur
für Klavier und Orchester? Die Antwort: „Eigentlich bin ich ein verhinderter Dirigent …“
Eine neue Ära
Mit der B-Dur-Sonate op. 22 fasst Beethoven an der Schwelle zu einem neuen Jahrhundert – das Stück entstand 1799/1800 – seine bisherigen Errungenschaften auf dem Gebiet der Sonate noch einmal
zusammen. Oberflächlich betrachtet mag das Stück durchaus an die Sonate op. 7 erinnern, inhaltlich geht Beethoven jedoch bereits deutlich andere Wege. Er schätzte das Werk hoch („Diese Sonate hat
sich gewaschen, geliebtester Herr Bruder!“) und forderte vom Verleger die exorbitante Summe von 20 Gulden als Honorar, wogegen das B-Dur-Klavierkonzert mit zehn Gulden ein Schnäppchen war.
Wie passt das mit der Tatsache zusammen, dass dieses op. 22 zu den am wenigsten gespielten Werken des Sonatenzyklus gehört und von der Literatur höflich als „eher uncharakteristisch“ und weniger
höflich als „reizlos“ beschrieben wird? Liegt es am spartanisch wirkenden Notenbild, könnte die herkömmliche Aufführungstradition die Wahrnehmung verfälscht haben?
Tatsache ist, dass Beethoven fast demonstrativ auf alle Äußerlichkeiten verzichtet; es gibt hier keine der von der Regel abweichenden formalen Kabinettstückchen, welche bei Beethoven mittlerweile
zur Regel geworden waren. Im Kopfsatz fällt auf, dass das gesamte Material auf Dreiklangsbrechungen basiert und die Harmonie oft über mehrere Takte hinweg unverändert bleibt. Und wirklich, nur
wenn die Tempovorschrift „Allegro con brio“ wörtlich genommen wird, wirken die weiträumig disponierten Verläufe durch die freigesetzte motorische Energie zwingend und logisch. Allerdings hat
Beethoven den Klaviersatz derart mit technischen Schwierigkeiten gespickt, dass das „Brio“ oftmals notgedrungen zum „Allegretto“ verharmlost wird, um den Satz überhaupt spielbar zu machen.
Auch der zweite Satz wartet, unter umgekehrten Vorzeichen, mit Problemen auf: der seltene 9/8-Takt, „Adagio con molta espressione“, fordert vom Spieler sowohl ein perfektes Legato als auch die
Fähigkeit zu atmosphärischer Innenspannung; wird der Satz, wie oft der Fall, zu einem 3/4-Takt mit Triolenbegleitung beschleunigt, bleiben die fast mystischen Modulationen des Mittelteils an der
Oberfläche, versinken ganze Formteile in Banalität. Wie das Menuett mit seinem barockisierenden Trio fordert auch das Finale, welches auf alle vordergründigen Effekte verzichtet, vom Interpreten
eine Verbindung von Verstand und Temperament, um die beabsichtigte Wirkung erreichen zu können. Beethoven jedenfalls wusste, wovon er sprach – und das auf einem Instrument „Machbare“ sollte ihn
immer weniger interessieren.
Die beiden kurzen Sonatinen verdanken ihre Veröffentlichung unter der verspäteten Opuszahl 49 im Jahre 1805 dem Gewinnstreben von Beethovens Bruder, der die zwischen 1795 und 1797 zu
Unterrichtszwecken komponierten Stücke heimlich an das „Bureau des Arts et d‘Industrie“ verkauft hatte, was zu verbürgten handgreiflichen Auseinandersetzungen zwischen den Brüdern führte. Sind
die Sonatinen zwar Fremdkörper in der Reihe der „vollgültigen“ Sonaten, so zeigen sie doch, zu welch fantasievollen Höhenflügen Beethoven gerade bei größtmöglicher Beschränkung der Mittel fähig
war.
Die g-Moll-Sonatine hatte Beethoven im Manuskript mit Vortragsbezeichnungen versehen, in der G-Dur-Sonatine fehlten diese jedoch völlig, und so ging dieses Stück praktisch unbezeichnet in Druck.
Für seine Aufnahme hat Michael Korstick sich von einer 1833 bei Haslinger erschienenen Ausgabe anregen lassen.
Mit der Sonate As-Dur op. 26 hatte Beethoven formales Neuland betreten, weshalb diese Sonate gern als Beginn der mittleren Schaffensperiode bezeichnet wird. Die beiden folgenden Sonaten op. 27
überschrieb Beethoven absichtsvoll mit dem Titel „Sonata quasi una fantasia“, wohl nicht zuletzt, um dem Hörer vorab klar zu machen, dass eine traditionell ausgerichtete Erwartung in die Irre
führen würde. Wie starr diese Erwartungshaltung damals war, zeigt ein Kapitel im „Historischen Taschenbuch“ für 1802, in dem im Hinblick auf die Sonaten op. 26 und 27 von der „Unzufriedenheit“
der „unpartheyischen Kenner mit Beethovens neuesten Klavierwerken“ die Rede ist, „in denen sie ein auffallendes Bestreben nach Ungewöhnlichkeit und Originalität wahrnehmen, dem nur zu oft die
Schönheit aufgeopfert war“.
Die Es-Dur-Sonate op. 27 Nr. 1 verzichtet ganz auf die Sonatenform. Der erste Satz ist einer fünfteiligen Improvisation nachempfunden, in der der dreimal erscheinende, jeweils ornamental
abgewandelte Andante-Hauptteil von zwei Episoden unterbrochen wird, deren zweite (Allegro, C-Dur) für einen grellen Kontrast sorgt. Der zweite Satz ist weder Scherzo noch Menuett, er bringt ein
Element des Fantastischen ein; die Eckteile scheinen der Welt eines E.T.A. Hoffmann zu entstammen, während der Mittelteil, der ein Trio erwarten ließe, demgegenüber Scherzo-Charakter trägt. Der
Finalsatz beginnt mit einem Adagio-Teil in As-Dur, der bruchlos ins kontrapunktische „Allegro vivace“ übergeht. Dessen vermeintliche Schlusssteigerung bricht auf einem Dominantseptakkord ab, das
Adagio erscheint, verkürzt, noch einmal, darauf bringt ein kurzes Presto, welches das Finalthema auf seine Intervallstruktur reduziert, das Werk zu einem stürmischen Schluss. Man geht sicher
nicht fehl in der Annahme, dass Beethoven sich bei der Konzeption seiner As-Dur-Sonate op. 110 an die Grundidee dieser Fantasie-Sonate erinnert hat.
Dass die cis-Moll-Sonate op. 27 Nr. 2 genau wie die Pathétique op. 13 zum „Mega-Hit“ geworden ist, kann durchaus daran liegen, dass ihre drei Sätze einen jeweils so stark vereinheitlichten
Charakter tragen, dass sie alle möglichen außermusikalischen und poetischen Deutungen zulassen; man denke an Liszts Wort von der „Blume zwischen zwei Abgründen“ oder gar an Ludwig Rellstabs
Aufsatz von 1832, in dem er sich vom ersten Satz an den auf den Wellen des Vierwaldstätter Sees spielenden Mondschein erinnert fühlte. Und dies wurde der Sonate zum Schicksal, sie erhielt damit
30 Jahre nach ihrer Entstehung ein biedermeierliches Etikett, welches sich nie wieder von ihr lösen sollte.
Was Beethoven davon gehalten hätte? Man muss nicht lange spekulieren, hatte er sich doch zu Lebzeiten schon darüber geärgert, dass die Popularität dieses Stücks, zu der möglicherweise gerade der
Verzicht auf Kontraste innerhalb der einzelnen Sätze beigetragen hatte, auf Kosten anderer, komplexerer Werke ging. Vielleicht bewegte ihn gerade dieses Gefühl, ein Stück geschaffen zu haben, das
aus den falschen Gründen so erfolgreich geworden war, zu seiner missmutigen Äußerung: „Ich habe wahrlich besseres geschrieben!“ Wir heutigen Hörer dürfen uns jedenfalls darüber freuen, dass
Beethoven unwissentlich den Beweis dafür erbracht hat, dass auch ein Kunstwerk höchsten Anspruchs zum allgemeinen Erfolg werden kann, indem es sich sowohl dem emotionalen als auch dem
analytischen Zugang gleichermaßen erschließt.
http://www.michaelkorstick.de/