Nichts hat das deutsche Volk - dies muß immer wieder ins Gedächtnis gerufen werden -
so erbittert, so haßwütig, so hitlerreif gemacht wie die Inflation.
Stefan Zweig, Die Welt von Gestern: Erinnerungen eines Europäers.
Der Minsky-Moment der Demokratie
Mit dem Ende des Kalten Krieges und dem Fall der Berliner Mauer wurde nach Francis Fukuyama auch das „Ende der Geschichte“ ausgerufen. Doch heute steht die Demokratie wieder unter Druck – von außen und von innen.
EIN GASTBEITRAG VON ROLAND WÖLLER am 16. Dezember 2022 in CICERO ONLINE
Der Markt ist effizient, alle Wirtschaftsakteure handeln rational und Eingriffe des Staates in das freie Spiel der Kräfte
sind schädlich. So haben wir es gelernt und so lehrt es die wirtschaftswissenschaftliche Neoklassik. In der Folge waren die Jahre 1980 bis 2000 von Privatisierung, Deregulierung und Flexibilisierung geprägt. Der Staat zog sich weitest-gehend zurück. Insbesondere auf den Finanzmärkten.
In Europa wurden Haftungsregeln für Banken entschärft und Eigenkapitalvorschriften abgeschwächt. Die USA hoben die Trennung von Investment- und Geschäftsbanken auf. Neue Finanzinnovationen überschwemmten den Markt und mit ihn ein neues Risikobewusstsein. Der Kreativität – oder besser Gier – schien keine Grenze gesetzt. Solange bis mit der Lehman-Pleite und dem Platzen der Immobilienblase 2007 das ganze Finanzsystem aus den Fugen geriet.
Scheinbare Stabilität der Gegenwart
Die Schockwellen der größten Finanz- und Wirtschaftskrise nach dem Zweiten Weltkrieg erreichten auch die Politik. Hyman Minsky, ein weitgehend unbekannter Ökonom, hatte schon 1986 in seinem Buch „Stabilizing an Unstable Economy“ auf diese Instabilitäten hingewiesen. Kernthese des Krisenpropheten Minsky sind die „inhärenten Insta-bilitäten“ des Kapitalismus.
Das Gleichgewicht auf Finanzmärkten ist nicht stabil. Scheinbare Stabilität der Gegenwart verleitet die Marktakteure immer risikofreudiger zu werden. Dies legt den Grund für die nächste Krise. Nicht exogene Schocks, sondern innere, systemische Ursachen führen dazu. „Stabilität führt zu Instabilität“ war für Minsky das Krisenparadoxon.
In Zeiten des langen Aufschwungs mit stabilen Wachstumsraten und Verschwinden der Inflation wollte allerdings niemand auf ihn hören. Heute stellt sich nicht nur die Frage, wie stabil sind die Finanzmärkte, sondern wie stabil ist unsere Demokratie? Ist die Stabilität dauerhaft oder gibt es nicht wie bei Minsky destabilisierende Tendenzen auch
in der Demokratie?
Die Demokratie ist unter Druck geraten
Mit dem Ende des Kalten Krieges und dem Fall der Berliner Mauer wurde – nach Francis Fukuyama – auch das „Ende
der Geschichte“ ausgerufen. Die liberale Demokratie westlicher Prägung als anziehendes Alternativmodell, das Freiheit und Wohlstand verspricht und sich weltweit durchsetzen würde. Ein Irrtum – wie wir heute wissen.
Fest steht, die Demokratie ist unter Druck geraten – von Außen und von Innen. Seit 2004 gibt es weltweit mehr auto-kratische Staaten als Demokratien. Systemkonkurrenz droht besonders von autoritär-diktatorischen Staaten wie China. Die Hoffnung, durch zunehmenden Handel und wirtschaftliche Verflechtung würde sich automatisch eine demokra-tische Öffnung vollziehen, hat sich zerschlagen. Im Gegenteil: die Mischung, mit der autoritär-diktatorischen Regie-rungsformen wirtschaftliche Entwicklung und Wohlstand vorantreiben, ist nicht nur für afrikanische Staaten attraktiv.
Kampf im digitalen Raum
Der Krieg, mit dem Russland die Ukraine überzieht, ist ein direkter Angriff auf die Demokratie und Freiheit, und nur die Außenseite der Systemkonkurrenz, die längst zum Kampf im digitalen Raum geworden ist. Russland überzieht die westlichen Demokratien zudem mit Desinformation. Social Bots simulieren Zustimmung oder Ablehnung und mani-pulieren so gezielt die Meinung im Netz.
Unsicherheit und Vertrauensverlust bei vielen sind die Folge. Staatliche Regulierung tut sich schwer, wenn Eigentümer der Messenger-Dienste, auf denen wie bei Telegram Hass und Hetze verbreitet werden, russische Milliardäre sind, und die Server in Dubai stehen.
Verhindern durch Beteiligen
Aber auch von Innen droht die Demokratie destabilisiert zu werden. Demokratische Entscheidungsprozesse sind zu-nehmend komplexer und dauern zu lange. Wichtige Entscheidungen bei Infrastruktur- oder Bauprojekten ziehen sich teilweise über Jahrzehnte hin. Verhindern durch Beteiligen, lautet die Devise. So stellt sich die Demokratie selbst ein Bein.
Prozesshanselei und juristischer Imperativ des Individualinteresses behindert den Fortschritt der Gemeinschaft. Der inflationäre Gebrauch des Schlagwortes „Entbürokratisierung“ in Parteiprogrammen und Koalitionsverträgen, konnte bislang nichts gegen die Systemsklerose bewirken.
Auch sozio-ökonomische Faktoren verdunkeln den Glanz der Demokratie. Das über Jahrzehnte gültige Aufstiegs-
und Wohlstandsversprechen nach dem Krieg, hat auch die Demokratie gestärkt. Nun erleben wir eine wirtschaftliche Entkoppelung. Die drei „Ds“ der Deglobalisierung, Demografie und Dekarbonisierung führen zu merklichen Kosten-
steigerungen. Die Produktivität sinkt, die Friedensdividende hat sich mit dem Krieg in Europa und den globalen Konflikten aufgelöst. Sicherheit kostet.
Die Feinde der Demokratie
Die Corona-Pandemie hat tiefe Spuren in den Staatshaushalten hinterlassen und die Inflation in den privaten Geld-beuteln. Die bundesrepublikanische Mittelstandsgesellschaft, bislang ein politischer Stabilitätsanker, ist unter Druck.
Die Wohlstandserosion – immer noch auf hohem Niveau – macht anfällig für Extreme. Die Feinde der Demokratie
wissen das und machen mobil. Nicht nur auf der Straße.
Zudem tobt ein Kampf um Identitäten. Wo früher Gemeinsamkeiten im Vordergrund standen und sich soziale Milieus um gesellschaftliche Institutionen wie Kirche und Gewerkschaft geschart haben, steht heute die Abgrenzung im Vordergrund. Minderheiten beklagen ihre tatsächliche oder vermeintliche Benachteiligung und grenzen sich von
der Gemeinschaft ab.
Viele tun dies aus strategischem Interesse, um Kompensation oder Leistungen zu beziehen. Nach dem Motto: Wer heute nichts bekommt, hat gestern nicht laut genug geschrien. Die Summe von Minderheiten macht noch keine Gesellschaft, hat der ehemalige Vizekanzler und SPD-Chef Sigmar Gabriel zu Recht festgestellt. Es vollzieht sich eine bedenkliche Ablösung von der Mitte und Radikalisierung der Ränder.
Die Verheißungen des Internets
Ähnlich wie der Buchdruck die Reformation, die Aufklärung und dann die Demokratisierung ermöglichte und vorantrieb, verändert die Wucht der Digitalisierung nicht nur die Wirtschaft und Gesellschaft, sondern unser gesamtes Leben und uns selbst. Die digitale Kommunikation und die sozialen Medien haben bereits tiefgreifende Auswirkungen auf Politik und Demokratie. Die Verheißungen des Internets als digitale Graswurzelbewegung, die alle mitnimmt und den letzten Winkel der Gesellschaft demokratisiert, hat sich allerdings als falsch herausgestellt.
Hass und Hetze im Netz sind ernsthafte Gefahren für die Demokratie. Langzeitstudien in den USA zeigen, dass mit der persönlichen Unzufriedenheit durch die permanente Vergleichssucht, das Vertrauen in die Demokratie und seine demo-kratischen Institutionen stark gesunken ist. Eine gemeinsam geteilte Öffentlichkeit mit sachorientierter Diskussion weicht zunehmend segmentierter Filterblasen, in denen Selbstbestätigung und Selbstverstärkung vorherrschen.
Selbst die Wahrheit ist im Zeitalter alternativer Fakten verhandelbar geworden. Berüchtigt wurde die Aussage des Trump-Anwaltes Robert Guliani, „Wahrheit ist nicht gleich Wahrheit“. Das ungefilterte Rausschreien von Meinungen
und Provokationen ersetzt noch keinen politischen Diskurs mit Abwägen der Argumente der Gegenseite zur best-möglichen Lösungsfindung.
Die „Smartphonedemokratie“ ist keine Lösung
Das repräsentative System der Demokratie steckt in der Krise. Da helfen auch kaum direktdemokratische Elemente.
Die zunehmende Komplexität der Umwelt lässt sich in seltensten Fällen auf Ja/Nein-Entscheidungen reduzieren.
Auf Zeit gewählte Parlamentarier und Regierungen haben sich grundsätzlich bewährt. Kluge und vorausschauende Entscheidungen setzen Distanz und Zeit zum Abwägen voraus. Zeit und Aufmerksamkeit, die viele in der digitalen Zerstreutheit nicht mehr haben oder aufbringen wollen.
Die „Smartphonedemokratie“ ist keine Lösung. Das schrieb Henry Kissinger bereits vor mehr als 10 Jahren in seinem Buch „Weltordnung“: „Die Versuchung auf digital vermittelte Forderungen von Massen einzugehen, kann größer werden als das Bestreben, mit dem erforderlichen Urteilsvermögen einen schwierigen Kurs im Einklang mit langfristigen Zielen abzustecken. Die Fähigkeit zwischen Information, Wissen und Weisheit zu unterscheiden, geht verloren.“
In der „Stimmungsdemokratie“ zählen Gefühle und weniger Argumente. Affekte, ausgelöst durch Posts und Tweets, steuern die Aufmerksamkeit eher in Richtung kurzfristiger Reaktion statt langfristiger Reflektion. Dies gilt insbesondere für die Krisenvorsorge. Die kostet Zeit und Geld und bringt für handelnde Politiker wenig Glanz. Eine verhinderte Krise ist medial kein Erfolg.
Von einer Beteiligungs- zu einer Konsumhaltung
Grundlegend gewandelt hat sich auch das Demokratieverständnis. Von einer Beteiligungs- zu einer Konsumhaltung: Rückgang der Wahlbeteiligung. Sinkende Mitgliederzahlen von Parteien und Erosion der Volksparteien. Politik wird von vielen als „Pizzadienst“ verstanden. Eine immer größer werdende Erwartungshaltung bestellt bei ihrer Regierung oder Abgeordneten ihr individuelles Wunschmenü. Dies kann – das zeigt schon die Lebenserfahrung – unmöglich erfüllt werden.
In Ostdeutschland wächst die Enttäuschung besonders schnell. Bei vielen scheint ein Missverständnis vorzuliegen. Sie gehen davon aus, dass Demokratie ist, wenn genau das geschieht, was sie selbst wollen. Bekommen Sie nicht, was sie wollen, bleibt es nicht nur bei Enttäuschung oder Entfremdung, sondern die Systemfrage wird gestellt. Heißt: die Demokratie als solches wird in Frage gestellt. Im Netz befeuerte Verschwörungstheorien treiben Menschen auf die Straße und stärken so die extremistischen Ränder.
Keine Qualitätsverbesserung der Demokratie
Die Lehre von Weimar ist: Demokratie funktioniert nur mit Demokraten. Aber auch nur mit ausreichend Personen,
die sich zur Wahl stellen und sich in die Verantwortung nehmen lassen. Auch hier ist eine Auszehrung zu beobachten. Beleidigungen und Bedrohungen nicht nur im Internet haben bereits Kommunalpolitiker zur Aufgabe bewegt. Hinzu kommt eine negative Auslese.
Kluge Köpfe, die dringend in der Politik gebraucht würden, finden in Wissenschaft und Wirtschaft bessere Möglich-keiten oder wollen die zeitlichen Belastungen und psychischen Kosten von Angriffen und möglichen Shitstorms in den sozialen Medien auf sich und ihre Familien nicht tragen. Es wächst so die Zahl der Abgeordneten, bei denen die Zahl der Follower wichtiger ist als Berufsabschluss oder -erfahrung. Dies ist keine Qualitätsverbesserung der Demokratie. Was also tun?
Die Zukunft der Demokratie
Ein erster Schritt ist, sich bewusst zu machen, dass Freiheit, Demokratie und Marktwirtschaft nicht voraussetzungslos gegeben sind und allein durch die verfassungsrechtliche Festschreibung im Grundgesetz automatisch auf immer garan-tiert sind. Demokratie ist auch mehr als digitale Demoskopie. Und politische Führung ist mehr als die Umsetzung von tagesaktuellen Meinungsumfragen in Politik.
Herfried Münkler bringt es in seinem neuen Buch „Die Zukunft der Demokratie“ auf den Punkt: an den Bürgerinnen und Bürgern, ihrer Bereitschaft zum Engagement, ihrer Sachkompetenz und ihrer politischen Urteilskraft entscheidet sich die Zukunft der Demokratie. Es liegt also an uns, einen Minsky-Moment der Demokratie zu vermeiden. Die Schein-stabilität der Demokratie führt sonst wie bei Minsky zu Instabilitäten, die nicht nur die Fundamente unseres Wohlstands, sondern auch die Substanz unserer Demokratie erschüttern. Und Krisen haben wir schon genug. Oder?
AUTORENINFO
Roland Wöller war Professor für Volkswirtschaftslehre und von 2017 bis 2022 Staatsminister des Innern in Sachsen.
Multiple Krisen - Der Minsky-Moment der Demokratie | Cicero Online