Ukraine: Unerreichbares Kriegsziel Krim?
Erklärtes Kriegsziel der Ukraine ist die Vertreibung der russischen Truppen vom eigenen Staatsgebiet. Dazu gehört auch die 2014 von Russland annektierte Halbinsel Krim. Doch wie realistisch ist eine Rückeroberung?
18 Kilometer lang, Hunderte Milliarden Rubel schwer und für den russischen Nachschub von extremer Wichtigkeit: Das ist die Krim-Brücke, die die zwischen Russland und der Ukraine so umkämpfte Halbinsel im Osten mit dem russischen Festland verbindet. Nach der Annexion der Halbinsel im Jahr 2014 plante und baute Moskau die Brücke, die sowohl eine vierspurige Autobahn als auch eine parallel dazu verlaufende Zugverbindung beherbergt, innerhalb kürzester Zeit. Der Bau der Brücke erhielt Vorrang vor nahezu allen anderen großen russischen Verkehrsinfrastrukturprojekten. Seit 2018 verbindet sie nun die im äußersten Osten der Krim gelegene Stadt Kertsch mit der russischen Halbinsel Taman.
Tatsächlich ist die Brücke für Russland von großer strategischer Bedeutung: Sie sichert den Nachschub für die russi-schen Truppen auf der Halbinsel und der gesamten Südukraine. Nicht zuletzt deshalb ist sie der ukrainischen Armee schon länger ein Dorn im Auge. Bislang allerdings war die Brücke für sie außer Reichweite. Das allerdings könnte sich nun ändern. Wenn die Ukraine demnächst die dafür notwendigen Waffen erhalte, sagte der ukrainische General Dmytro Martschenko, sei die Zerstörung der Brücke das "Ziel Nummer 1".
Gefahr der weiteren Eskalation
Moskau drohte für diesen Fall bereits mit schwerer Vergeltung und brachte sogar eine Wiederaufnahme der Luftangriffe auf die ukrainische Hauptstadt Kiew ins Spiel. Tatsächlich hätte für Russland eine Bombardierung von Zielen auf der Krim nochmal eine andere Bedeutung als der Krieg im Donbass oder dem Rest der Ukraine. Denn Moskau betrachtet die bereits 2014 völkerrechtswidrig annektierte Halbinsel als ureigenstes Staatsgebiet und nach einem international nicht anerkannten Referendum als Teil der Russischen Föderation. Nach russischer Lesart würde der Krieg somit auf russisches Territorium ausgeweitet – womit eine weitere Eskalation des Krieges droht.
Allerdings betrachtet auch die Ukraine die Krim weiter als ihr Staatsgebiet. "Wir werden alle unsere Gebiete befreien, wirklich alle, auch die Krim", sagte der ukrainische Verteidigungsminister Olexij Resnikow gegenüber dem US-Sender CNN – auch wenn es zunächst einmal "das realistische Minimum" sei, "dass die russischen Kräfte sich an die Grenzen zurückziehen, die vor dem 24. Februar gültig waren", wie sein Berater Jurij Sak verlauten ließ.
Die scharfe Reaktion des Kremls hat ihre Gründe: Für Moskau hat die Krim nochmal eine höhere Wertigkeit als der Rest der Ukraine. Mehr als zwei Jahrhunderte lang gehörte die Krim zu Russland. Bereits im 18. und 19. Jahrhundert siedelten die Zaren dort vermehrt ethnische Russen an. Stalin setzte diese Politik fort; daher ist die deutliche Mehrheit der Bevöl-kerung bis heute prorussisch eingestellt. Erst im Jahr 1954 wurde die Krim unter bis heute nicht vollständig geklärten Umständen auf Anordnung des damaligen sowjetischen Generalsekretärs Nikita Chruschtschow der Ukrainischen SSR zugeschlagen. Möglicherweise lag der Grund darin, dass Chruschtschow selbst gebürtiger Ukrainer war. Nach dem Zerfall der UdSSR blieb die Krim offiziell ukrainisches Staatsgebiet, auch wenn Kiew seinen Machtanspruch dort nie richtig durchsetzen konnte und die Bevölkerung zum Großteil prorussisch blieb. So gewährte Kiew der Halbinsel einen Autonomiestatus – und schloss mit Russland Pachtverträge ab - etwa über den strategisch bedeutsamen Hafen in Sewastopol.
Dort hatte sich schon zu Sowjetzeiten das Hauptquartier der russischen Schwarzmeerflotte befunden – außerdem ist Sewastopol der einzige bedeutsame russisch genutzte Hafen überhaupt, der das ganze Jahr über sicher eisfrei bleibt. Militärisch bot er Zugang zum Schwarzen Meer, wirtschaftlich kamen durch ihn viele wichtige Waren ins Land. Bis ins Jahr 2014 stellte diese Übereinkunft zwischen der Ukraine und Russland auch kein größeres Problem dar. Doch dann begann in Kiew der Euromaidan – der prorussische Präsident Janukowitsch wurde gestürzt und musste nach Moskau fliehen. Plötzlich sah man im Kreml die Gefahr, durch eine Hinwendung der Ukraine zum Westen und insbesondere zur NATO Sewastopol und die gesamte Krim langfristig an das westliche Verteidigungsbündnis zu verlieren – und entschloss sich zur völkerrechtswidrigen Annexion.
Diese versucht Russland im nun aufgeflammten Krieg weiter zu verfestigen. Neben der Eroberung des Donbass erklärte der Kreml die Schaffung eines russisch besetzten Landkorridors von dort aus zur Krim zu einem seiner wichtigsten Kriegsziele. Tatsächlich war die Halbinsel ohne die Brücke über die Straße von Kertsch von russischem Territorium aus bislang nicht über Land zu erreichen. Jegliche Versorgung der rund 2,3 Millionen Einwohner findet bislang vom Meer aus oder über diese Brücke statt. Mit weiteren Eroberungen in der Südukraine würde Putin zudem weitere Fakten schaffen: Eine Rückkehr zum Status vor der Annexion würde quasi unmöglich werden. Die Ukraine wäre völlig vom Zugang zum Asowschen Meer abgeschnitten, und da die Krim wie ein riesiger Keil in das Schwarze Meer hineinragt, würde Russland auch jeglichen Schiffsverkehr in Richtung des letzten verbliebenen ukrainischen Schwarzmeerhafens Odessa kontrollieren und unterbinden können. Dass auch das ein russisches Kriegsziel ist, zeigen auch die heftigen Kämpfe um die kleine Schlangeninsel vor der rumänischen Küste.
In der Ukraine herrscht indes Unklarheit darüber, wie weit man gehen würde, um auch die Krim wieder unter ukraini-sche Kontrolle zu bringen. Die Rückgabe der Halbinsel sei "eine Frage, die diplomatisch verhandelt werden muss", so Regierungsberater Sak. Militärisch, das ist wohl auch Präsident Selenskyj klar, gilt eine Rückeroberung selbst unter besseren Vorzeichen als derzeit quasi als unmöglich: "Ich denke, dass das auf unserer Seite hunderttausende Verluste bedeuten würde", erklärte Selenskyj gegenüber dem US-amerikanischen Nachrichtenportal "Axios". Wie eine mögliche Rückgabe allerdings auf dem Verhandlungswege erzielt werden soll, ist bislang völlig unklar. Aufgrund der derzeitigen Kräfteverhältnisse, der strategischen Bedeutung der Krim, aber auch aufgrund der klaren Loyalität der großen Mehrheit ihrer Einwohner gegenüber Russland erscheint sie zum jetzigen Zeitpunkt allerdings ziemlich abwegig.
https://www.dw.com/de/ukraine-unerreichbares-kriegsziel-krim/a-62171676
"Wer sich nicht wehrt, lebt verkehrt.", lautete ein Spontispruch gegen Ende der 70er Jahre an manchen Haus-wänden. Dieser flotte Spruch wendete sich anscheinend gegen den Radikalpazifismus der Friedensbewegten und gegen die allzu angepassten und obrigkeitsgläubigen Bürger einer westdeutschen Republik, die immer noch im Schatten der Amerikaner stand. Aber man konnte diesen Spruch auch als eine heimliche Rechtfertigung der verbohrten Terroranschläge der Roten Armee-Fraktion (RAF) verstehen.
Auch wenn individuelle Notwehr und kollektive Selbstverteidigung gegen einen brutalen Angreifer moralisch zulässig und (völker-) rechtlich legitim sind, ist jemand,
der so verbissen und verbittert kämpft, dass er das Ziel seines Kampfes aus den Augen verliert, kein guter Kämpfer für seine gerechte Sache mehr. Denn er läuft Gefahr, sich zu verkämpfen und wenn
er eine ganze Armee kommandiert, zu viele Opfer in Kauf zu nehmen.
Der ehemalige Schauspieler Wolodymyr Selenskyj mag ein tapferer Verteidiger des Rechtes der Ukraine auf politische Selbstbestimmung und für eine freiheitliche und rechtsstaatliche Demokratie im zukünftigen Verbund der Europäischen Union sein. Aber gerade deswegen braucht er eine realistische Strategie, um seine militärischen Ziele und die politischen Wunschziele der großen Mehrheit der Ukrainer erreichen zu können. Die Frage ist, ob er seine strategischen Kriegsziele und die dafür nötigen Verhandlungsoptionen noch realistisch einschätzt.
Generäle wissen in der Regel sehr gut, was Krieg ist und sind daher nicht so schnell dafür, das Leben ihrer Solda-ten aufs Spiel zu setzen. Je mehr westliche Spitzenpolitiker Selenskyj als Freiheitskämpfer und Helden feiern, desto länger wird er Gefahr laufen, die Chancen der ukrainischen Kämpfer zu überschätzen und immer mehr Menschen zu opfern, ohne seine hoch gesteckten Kriegsziele zu erreichen.
Wenn nun die verantwortlichen Akteure der EU und führender EU-Nationen erklären, dass die Regierung der Ukraine das Recht habe, ihre Kriegsziele selbst zu
bestimmen, ist das zwar formal richtig, aber folgt nur einem völkerrechtlichen Prinzip. Wichtiger als solche völkerrechtlichen Prinzipien, scheinen mir jedoch die Opfer zu sein, die dieser Krieg
an jedem Tag fordert. Es sollen alleine auf ukrainischer Seite 300 bis 400 Ukrainer pro Tag sein, Kombattanten und Zivilisten. Müssen diese Menschen wirklich alle für dieses völkerrechtliche
Prinzip sterben?
Die westlichen Akteure der EU und der führenden EU-Nationen haben anscheinend nicht den Mut, Selenskyj unter vier Augen zu realistischen Zielen anstelle
völkerrechtlicher Prinzipienreiterei zu raten. Sie sollten ihm empfehlen, sich selbst, die Ukrainer und die ukrainischen Soldaten nicht zu überschätzen, sein Land und seine Leute nicht zu
überfordern, seine Soldaten und sie unterstützenden Zivilisten nicht für unerreichbare Ziele zu verheizen. Noch wichtiger als die normativen Prinzipien des Liberalismus scheint mir das Ethos der
Humanität zu sein.
Mein Eindruck ist, dass Selenskyj inzwischen mehr Menschen, Infrastrukturen und Städte opfert, als es anfangs zur berechtigten Notwehr und zur Verteidigung seines Landes angebracht gewesen ist. Er sollte Putin so bald
wie möglich, einen Waffenstillstand und einen Friedensvertrag anbieten, der Putin und seiner ihm hörigen Regierung die Krim, den hinzu gewonnenen Korridor zur Krim und den Donbass überlässt, den sie erobern wollten, zumal dort vorwiegend Menschen leben, die Russisch sprechen und die zu Russland gehören wollen.
Natürlich ist es schrecklich, dass auf die imperialen Kriegsziele seines grausamen Gegners Rücksicht nehmen muss. Aber, was soll er tun, wenn er das eigentliche Recht der Ukraine nicht bekommen kann? Sollte er wirklich sein ganzes Land und sein Volk dafür opfern? Putin könnte es mit seiner Propagandamaschine seinem schlecht aufgeklärten Volk als Sieg verkaufen, zumindest den Donbass und den Korridor zur Krim sowie die Krim selbst erobert zu haben, und er könnte behaupten, dass seine die ominöse "Spezialoperation" erfolgreich gewesen sei.
Manche Beobachter im Westen mögen aufgrund ihrer komfortablen Positionen in den von diesem schrecklichen Krieg weitgehend verschonten Regionen auf die politischen Interessen seiner despotischen Regierung keine Rücksicht nehmen wollen. Das kann man zwar wegen ihres nur allzu verständlichen gerechten Zorns auf Putin gut verstehen, aber klug ist das anscheinend nicht. Zumindest ist es nicht gut für das Wohlergehen der Ukrainer.
So zu denken ist kein westlicher Paternalismus, sondern solidarischer und humaner Realismus. Denn die russische Armee hat den längeren Atem, kann vermutlich weitere Batallione und noch mehr Kriegs-waffen mobilisieren und die Mehrzahl der größeren Städte der Ukraine mit seinen Raketen in Schutt und Asche legen. Dagegen helfen auch keine weiteren Waffenlieferungen aus den Staaten der EU und der NATO.
Um diese furchtbaren und tief traurigen Tatsachen zu verschleiern, ergehen sich westliche Spitzenpolitiker der EU und der NATO in eine fragwürdige politische Freiheitsrhetorik und in eine peinliche Propaganda. Da ist plötzlich von einem Krieg "mitten in Europa" die Rede, als ob die Ukraine nicht eher am Rande von Osteuropa liegen würde. Da wird in der Ukraine plötzlich "unsere Freiheit" verteidigt, als ob man das nicht auch schon einmal vom Hindukusch behauptet hatte. Was in Afghanistan schief gegangen ist, könnte auch am Donbass schief gehen.
Obwohl Selenskyj sich 2019 noch als Gegner der Aufnahme der Ukraine in die NATO zum Präsidenten wählen ließ, änderte er 2021 seine Position, obwohl er gewusst haben muss, dass Putin bereits erklärt hatte, dass er eine Mit-gliedschaft der Ukraine in der NATO als eine Kriegserklärung verstehen würde, weil sie die direkt die existenziellen Interessen Russlands gefährden würde. Daher hatten sich Angela Merkel und Nicolas Sarkozy schon 2014 gegen die Intentionen der USA gestellt und das Ziel einer zukünftigen Aufnahme der Ukraine in die NATO ebenfalls deut-lich abgelehnt. Aber die amerikanischen Präsidenten ließen sich schon damals nicht davon beirren.
Warum will die US-Amerikanische Regierung unter Biden und Harris diesen brutalen Stellvertreterkrieg gegen Russland auf Kosten der Ukraine und mit hohem Kosten und
Risiken für ganz Europa militärisch anheizen und strategisch vorantreiben und nicht friedlich beenden? Das abgeschmackte Gerede von der sog. "Freien Welt" die es noch nie gegeben hat, weil
politische Freiheit (liberty) immer nur ein Ideal, aber keine ökonomisch-politische Realität ist, hat spätestens seit dem Sturm des Lynchmobs auf das Kapitol in Wahington sowieso keinen guten Klang mehr.
Die Freheitsrhetorik und das Selbstverständnis der USA als "größter Nation auf Erden" geht meistens mit einer fehlen-den Selbstkritik einher, zumal die plutokratischen USA selbst starke Defizite hinsichtlich ihrer demokratischen Institutio-nen und der Realisierung der Menschenrechte in ihrem eigenen Land haben (wachsende Armut, anhaltender Rassis-mus, massive Drogenprobleme, fehlende Bildungschancen, unzulängliches Gesundheitswesen, hohe Kriminalitätsrate, überfüllte Gefängnisse, fehlende Regulierung des Zugangs zu Kriegswaffen, Ausübung der Todesstrafe, etc.).
Auch allzu eifrige grüne und liberale Kriegstreiber im vorauseilenden Gehorsam gegenüber Washington sollten endlich begreifen: "Wir Europäer" kämpfen dort nicht für "unsere Freiheit", sondern vor allem für die ökonomisch-politischen Interessen der großen Hegemonialmacht der USA, die aufgrund ihrer vorrangigen Konflikte mit der anderen großen Hegemonialmacht der VR China das schwächere Russland endgültig so klein machen will, dass
es für lange Zeit zu einer bloßen "Regionalmacht" (Obama) wird.
Dieses amerikanische Kriegsziel der militärischen und ökonomisch-politischen Schwächung Russlands ist jedoch vor allem einmal wieder für Europa gefährlich, da Putin mit dem Rücken zu Wand, in Bedrängnis und aus schierer Verzweiflung zum Einsatz von Atomraketen greifen könnte. Die Amerikaner jenseits des Atlantik fühlen sich so sicher, dass sie im eigenen Interesse, aber auf Kosten der Eurpäer mit dem Feuer spielen. Wahre Freunde tun so etwas nicht. UWD