Putins Krieg mit der NATO

 

 

Michail Chodorkowski:

«Wir müssen ihn jetzt stoppen. Putin ist längst im Krieg mit der Nato»

 

 

Was sich seit dem Angriffskrieg gegen die Ukraine jeder fragt, beschäftigt Michail Chodorkowski seit zwanzig Jahren: Wie weit wird Putin gehen? In London spricht der ehemalige Erdölmagnat über Russland und den Mann, den er heute seinen Feind nennt.

 

Anja Jardine in der NZZ am 09.04.2022

 

Müsste er die wichtigsten Menschen in seinem Leben benennen, käme Michail Chodorkowski wohl nicht umhin, Wladimir Putin zu erwähnen, weit vorn auf der Liste. Vor zwanzig Jahren hatte der Kremlchef den elf Jahre jüngeren Oligarchen als den gefährlichsten im Rudel der jungen Wölfe ausgemacht, die binnen weniger Jahre die Industrie des Landes unter sich aufgeteilt hatten – und ihn in ein Straflager nach Sibirien geschickt. Das Bild sollte sich einprägen: ein Mann im Käfig, um den Mund ein feines, ironisches Lächeln.

 

Beide sind sie Kinder der Sowjetunion, aufgewachsen in «Kommunalkas», Gemeinschaftswohnungen, die ihre Familien sich mit anderen teilen mussten, der eine in Leningrad, der andere in Moskau. Beide wussten früh, was sie werden wollten: KGB-Spion der eine, Fabrikdirektor der andere. Ehrgeizig nutzten sie die vom System vorgespurten Wege. Doch dann kollabierte der Koloss, und das Fundament wurde zu Treibsand. Und wieder bewiesen beide, Wladimir Wladimirowitsch Putin und Michail Borisowitsch Chodorkowski, Talent und Findigkeit, um darin nicht nur zu überleben, sondern um darauf zu bauen. – Noch etwas haben sie übrigens gemeinsam: die Art, leise, fast zögerlich zu sprechen. Und in beider Wortschatz spielt «Verrat» eine grosse Rolle.

 

Nach dem Fall des Eisernen Vorhangs stieg Putin binnen zehn Jahren vom Berater seines ehemaligen Professors an der Hochschule in Sankt Petersburg zum Präsidenten Russlands auf. Dabei nahm er folgende Stufen im Sprint: Leiter des städtischen Komitees für Aussenbeziehungen, Vizebürgermeister von Sankt Petersburg, stellvertretender Leiter der Kreml-Liegenschaftsverwaltung, stellvertretender Chef der Präsidialverwaltung, Chef des Inlandgeheimdienstes FSB, Sekretär des Sicherheitsdienstes, Ministerpräsident. In Moskau hatte er sechs Jobs in drei Jahren. Und natürlich liess er es so aussehen, als habe er dem KGB nach seinem ersten und letzten Auslandseinsatz in Dresden Adieu gesagt, traumatisiert vom Mauerfall und notgedrungen angesichts des verlustig gegangenen Feindes.

 

Doch wie die Lebensläufe seiner bis heute engsten Mitarbeiter sowie unverhofft freigelegte Zahlungsströme, unter anderen in den Panama Papers, belegen, speist sich sein Tun und Denken ungetrübt aus dem Milieu des KGB und seiner Nachfolgeorganisationen. Von Moskau über Sankt Petersburg bis zurück nach Dresden lassen sich die Fäden verfolgen und offenbaren ein Netzwerk der Macht gleich einem Paralleluniversum zu seiner mehr als zwanzigjährigen offiziellen Regentschaft im Kreml, die phasenweise Demokratie, Liberalisierung und Öffnung erhoffen liess.

 

Und der andere? Chodorkowski war erst Anfang zwanzig und platzte fast vor Tatendrang und Selbstbewusstsein, als sich ganz Russland plötzlich in ein Startup verwandelte. Es war, als hätte man ihn, wie Tausende andere auch, von der Leine gelassen. Monopoly im Wilden Osten. Chodorkowski importierte Computer, Jeans, Brandy, exportierte Matroschkas, alles im grossen Stil, er gründete eine der ersten Privatbanken Russlands und zog damit den Joker, der ihm bald darauf ermöglichen sollte, eine der grossen Erdölfirmen des Landes zu erwerben: Yukos. Als Wirtschaftskrise und Superinflation Russland in der zweiten Hälfte der neunziger Jahre heimsuchten, konnten die wenigen glücklichen Bankbesitzer ihre Vermögen in harte Währungen retten.

 

Auch auf Chodorkowskis Weg spielten Partei und Geheimdienste eine Rolle. Als den Funktionären schwante, dass die Sowjetunion kollabieren könnte, begannen sie mit gewissen Vorkehrungen für den Systemwechsel. Unter Gorbatschow entstanden erste kleine Freiräume zur experimentellen Annäherung an die Marktwirtschaft. Den hungrigsten und kühnsten unter den Studenten wurde bei ihren Innovationsprojekten mit Geld und Kontakten unter die Arme gegriffen; Chodorkowski war stellvertretender Komsomolsekretär des Mendelejew-Instituts, wo er Chemie studierte, und verfügte über die nötigen Verbindungen. Doch in null Komma nix schwamm er sich von seinen Mentoren frei.

 

Auf dem Gipfel angekommen, standen die beiden sich eines Tages gegenüber: Putin, Präsident von Russland, und Chodorkowski, CEO des Erdölkonzerns Yukos. Der eine Zögling einer abgehalfterten Elite, die sich vom Lauf der Geschichte zutiefst gedemütigt fühlte, der andere Vertreter der neuen Kaste der Oligarchen, Inbegriff des Raubtier-kapitalismus. Schnell war klar: Fortan strebten sie in diametral entgegengesetzte Richtungen.

 

Putin liess, kaum am Hebel der Macht, die längst abgeschaffte Nationalhymne der Sowjetunion wieder erklingen, nahm den Regionen wieder ihre Autonomie, legte der Presse den Maulkorb an. Chodorkowski richtete seinen Konzern nach westlichen Corporate-Governance-Grundsätzen aus, finanzierte die Ausbildung von Journalisten, brachte Yukos in London an die Börse – und liess sich partout nicht von Putin zurückpfeifen. Seine Verhaftung im Oktober 2003, die anschliessende Farce eines Gerichtsverfahrens, die Zerschlagung von Yukos gelten als Wendepunkt in Russlands Entwicklung: seine Abkehr von Freiheit, Rechtsstaatlichkeit und Demokratie.

 

Kalt und regnerisch ist es an diesem Märztag 2022 in London, über der Klingel an dem Stadthaus in einem der schönsten Quartiere findet sich kein Namensschild. In den stillen, eleganten Büroräumen versucht Chodorkowski aus dem erzwungenen Exil heraus etwas gegen den Krieg zu tun und für sein Land. Seit Beginn des Angriffskrieges gegen die Ukraine, Herkunftsland seiner Eltern, kann er nicht mehr schlafen. Er, der selbst im sibirischen Straflager geschlafen habe wie ein Baby. Doch mit dem Seelenfrieden ist es vorbei. Rund um die Uhr beantwortet er geduldig die Fragen der Journalisten, will aller Welt klarmachen, mit wem wir es im Kreml zu tun haben. Erschöpft sieht er aus.

 

Herr Chodorkowski, folgende Situation: Putin hat Besuch von einem befreundeten Geschäftsmann und hält unvermittelt einen flammenden Monolog. Er malt ein Weltuntergangsszenario aus, eine Art Endkampf der Riesen und Götter, in dessen Folge die Welt untergeht. – So hat es sich tatsächlich zugetragen. Der Besucher ging ziemlich verstört nach Hause und rief einen Freund an, der wiederum erzählte später mir davon. Sie kennen Putin. Verliert er den Verstand?

 

Ich glaube, ich verstehe Putin mittlerweile sehr gut. Nicht weil ich ihm allzu oft begegnet bin, das ist zwanzig Jahre her, sondern weil ich seit zwanzig Jahren gegen ihn kämpfe. Ich war gezwungen, mich mit ihm auseinanderzusetzen. Er scheint sich in einem Stadium der Psychose zu befinden, den Bezug zur Realität verloren zu haben, zumindest was das Verständnis der Ukraine betrifft. Aber nach meiner Einschätzung ist er nicht suizidal. Er wird keine Atombombe zünden, wenn es ihn selbst mit dem Tod bedrohen könnte. Das Einzige, was Putin respektiert, ist Stärke. Wenn ihm Schwäche gezeigt wird, kennt er keine Grenze. Er ist ein Bandit.

 

«Bandit» klingt harmlos in Anbetracht dessen, was wir jetzt erleben.

 

Wissen Sie, wie es ist, mit einem Banditen zu sprechen?

 

Nein, vermutlich nicht.

 

Sein erstes Ziel ist es, Sie zu unterdrücken. Ich habe viele KGB-Leute gekannt, einige waren keine guten Menschen, aber andere waren normale Leute, die nach dem Kollaps der Sowjetunion bereitwillig in die Wirtschaft gewechselt und Geschäftsleute geworden sind. Einer von ihnen, der letzte KGB-Chef, ist ein guter Freund von mir, ein Mensch mit weiten demokratischen Anschauungen. Aber Putin gehörte einem Teil des KGB an, der ausserhalb des Rechts agierte. Er ist kein KGB-Mann, er ist ein Bandit.

 

Anfangs hielten auch Sie ihn für einen Mann, auf dessen Wort Verlass ist. 2000 hat Putin ein Dutzend junger Oligarchen auf seine Datscha eingeladen, was als Schaschlik-Treffen bekannt wurde. Damals, so heisst es, habe er den Oligarchen die Spielregeln bekanntgegeben: Wenn ihr euch aus der Politik heraushaltet, könnt ihr eure Unternehmen behalten. – Haben Sie sich nicht an die Spielregeln gehalten, oder hat er sein Wort gebrochen?

 

Ich erinnere mich gut daran. Es war ein recht normales Treffen für Russland. Es wurde extra in einem weniger formellen Rahmen durchgeführt, um es dem Protokoll zu entziehen. Dieses Treffen wurde später oft vom Kreml benutzt, um die illegalen Aktionen gegen mich und Yukos zu rechtfertigen, aber die Wahrheit ist, dass Putin nicht von uns verlangt hat, sich nicht am politischen Leben zu beteiligen – das wäre eine dumme und unmögliche Forderung gewesen. In dem Gespräch ging es darum, jene Sabotageakte, die die «roten Direktoren», also die Kommunisten, noch gegen Jelzin praktiziert hatten, aufzugeben. Das war vernünftig, und selbst als ich im Gefängnis war, habe ich nie gedroht, die Produktion zu stoppen.

 

Sie hielten Putin anfangs für harmlos? In frühen Interviews entsteht der Eindruck.

 

Nein, so kann man das nicht sagen. Seit 1998 war dieser Mann stellvertretender Chef der Präsidialverwaltung unter Jelzin und danach Direktor des Inlandsgeheimdienstes FSB. In der Funktion hat er ein sehr unerfreuliches Dokument über mich und meine Firma unterschrieben. Das Kreieren und Sammeln von «Kompromat», kompromittierendem Material, gegen potenzielle Gegner ist eine klassische KGB-Methode. Und kaum war er Ministerpräsident, hat er den Generalstaatsanwalt Juri Skuratow, der im Umfeld der Familie Jelzin wegen Korruption ermittelte, mithilfe eines Sexvideos diskreditiert und aus dem Weg geschafft. Wir alle wussten davon. Man kann nicht sagen, dass wir bei jenem Grillabend glaubten, einen netten Kerl zu besuchen.

 

Als Putin 2000 an die Macht kam, war er für viele in Ost und West ein Hoffnungsträger, der die Öffnung des Landes und die Liberalisierung der Wirtschaft vorantreiben würde. Auch für Sie?

 

Ich glaube, beides hatte er nie vor. Putin zeigt jedem das Gesicht, das derjenige sehen möchte. Darin werden KGB-Leute geschult, und er ist meisterhaft darin. Wenn ich zurückschaue, muss ich sagen, dass Rechtsstaat und Demokratie nie einen Wert für ihn hatten. Schon als kurz nach seiner Wahl das U-Boot «Kursk» sank, war seine erste Reaktion, die Freiheit der Presse zu beschneiden, weil die ihn für seinen Umgang mit der Tragödie kritisiert hatte. Wir Russen hätten die weitere Entwicklung verhindern können, wenn wir damals die demokratischen Freiheiten sofort energisch verteidigt hätten. Aber wir haben uns nicht getraut. Und dann war es zu spät.

 

Sollten die Europäer konsequenter auf ähnliche Tendenzen in Ungarn, Polen und der Türkei reagieren?

 

Ich glaube, Europa muss entscheiden, ob es enger zusammenrücken oder sich erweitern will. Wenn Sie mich als Manager fragen würden, würde ich sagen, dass es manchmal so gewichtige Anliegen gibt, bei denen Sie nicht auf alle warten können. Es sollte einen Mechanismus geben, der es einer grossen Gruppe von Ländern ermöglicht, eigenständig zu handeln und die Randständigen zurückzulassen, damit sie ihr Schicksal selbst bestimmen können. Zum Beispiel indem die Mitgliedschaft ausgesetzt wird, bis bestimmte Bedingungen erfüllt sind. Aber das ist natürlich keine leichte Entscheidung.

 

Wie blicken Sie heute auf den jungen Mann, der Sie selber in den achtziger und neunziger Jahren waren?

 

Ich treffe heute viele junge Männer, die so sind, wie ich damals war, und voller Enthusiasmus Startups gründen. In der Sowjetunion wollten Jungs entweder Astronaut oder Pilot werden, aber mein Traum war es schon immer, Fabrikdirektor zu werden. Das lag daran, dass neben meinem Kindergarten eine grosse Fabrik war. Ich wollte die wichtigste Person in diesem riesigen Gebäude sein.

 

Das ist Ihnen dann ziemlich schnell gelungen. Wie wurden Sie Oligarch?

 

Zum Ende der Sowjetunion lagen etwa 20 Prozent der Wirtschaft im Schatten, vielleicht sogar mehr. Gorbatschows Idee war es, diese Schattenwirtschaft als Incentive und Anschub für die gesamte Wirtschaft zu nutzen. Es gab zwei Ansätze: Das eine war die Kooperative – ein Unternehmertum mit sehr beschränkter Macht –, deren Betätigungsfelder Gorbatschow erweiterte. Und das Zweite war, dass er im Komsomol, der Organisation der Kommunistischen Partei, jungen Leuten zwischen 14 und 28 erlaubte, ein bisschen mit der Marktwirtschaft zu experimentieren. Er hat sich im Traum nicht vorstellen können, wie explosiv das sein würde.

 

Inwiefern?

 

Es hat alles auf den Kopf gestellt, entfesselt. Ich habe mit ein paar Freunden Computer importiert, darauf russische Software installiert und diese Computer an grosse Firmen verkauft. Anfangs waren wir zu fünft, nach einem Jahr waren wir 5000 Leute! Wir haben zu den Leuten gesagt: «Kommt zu uns, wir erklären euch, wie man zu Geld kommt. Du bringst uns entweder einen grossen Auftrag, oder du bringst uns Computer. Dann verkaufen wir die Computer und teilen uns den Profit.» Es gab ein gewisses Risiko, aber wir haben es gewagt.

 

Inwiefern ein Risiko, wenn es doch von der Regierung initiiert worden war?

 

In der Sowjetunion war Unternehmertum gesetzlich verboten, es war eine Straftat. Zwar gab es plötzlich diese neue Erlaubnis, aber das hiess nicht, dass im Zweifel nicht vielleicht doch das Gesetz galt. Wir sagten uns: «Okay, wir wagen es, wir nutzen diesen neuen Freiraum», aber über unseren Köpfen hing immer noch das alte Gesetz. Wenn wir morgens zur Arbeit kamen, grüssten wir uns mit den Worten: «Hi. Du bist noch auf freiem Fuss?»

 

Als Sie eines Tages zur Bank gingen, um einen Kredit aufzunehmen, erfuhren Sie, dass Sie dafür selber eine Bank besitzen müssten. Und also gründeten Sie eine Bank?

 

Ja. Für eine kurze Zeit war es relativ leicht, eine Banklizenz zu bekommen. Ich habe mein Geld aus dem Computerbusiness herausgenommen und damit die Bank gegründet. Und nach einer Weile in der Bank habe ich dort mein Geld herausgenommen und mich einem Industrieunternehmen zugewendet. Es war ein bisschen wie im Kasino, wie ein Roulettespiel. Du hast einen Topf Geld, und ich habe jedes Mal alles auf nur eine Zahl gesetzt.

 

Mitte der neunziger Jahre war der Staat nahezu bankrott, eine soziale Katastrophe drohte, da lancierte Jelzins Regierung das «Darlehen-gegen-Anteile»-Programm: Die Banken gewährten dem Staat Kredite und erhielten als Sicherheit Anteile an den Industriekonzernen. Auf diese Weise kamen Sie zu Yukos. Das Programm gilt heute als Ursünde in der Privatisierung der russischen Wirtschaft. Wie denken Sie darüber?

 

Ich denke allgemein, dass die Privatisierung durch Einführung eines freien Aktienhandels in einem Land, in dem siebzig Jahre kein Markt existiert hat, ein Fehler war. Die Leute haben schlicht nicht verstanden, was vor sich ging. Aber wir haben im Rahmen der Regeln agiert, die damals etabliert worden waren, und zwar nicht von uns, sondern von der Regierung. Es war eine bewusste Entscheidung des Präsidenten Jelzin.

 

Der alles daransetzte, im Amt zu bleiben, weil er befürchten musste, wegen Korruption angeklagt zu werden, sobald er die Immunität des Amtes verliert. Haben Sie sich damals als politisch empfunden?

 

Bis ich ins Gefängnis kam, habe ich mich nicht für Politik interessiert.

 

Nein? Sie haben damals diverse Parteien finanziell unterstützt. Das Scheitern eines Gesetzes zur Besteuerung von Rohstoffen wird Ihrer Lobbyarbeit zugeschrieben. Sie begegneten den Staatschefs verschiedener Länder, schwärmten oft von dem französischen Regierungsmodell, das Sie in Russland für erstrebenswert hielten.

 

In einem demokratischen Land ist das Lobbyieren grosser Unternehmen normal. Die Methoden mögen in verschie-denen Ländern unterschiedlich reglementiert sein, aber ich bin nie der Korruption beschuldigt worden.

 

Putin muss Sie jedoch als Gefahr wahrgenommen haben. Im Februar 2003 haben Sie ihm vor laufender Fernsehkamera in einer Gesprächsrunde indirekt Korruption vorgeworfen, woraufhin er Ihnen, ebenfalls öffentlich, den Kopf gewaschen hat, sinngemäss: Da meldet sich grad der Richtige.

 

Ich hatte verstanden, dass die Politik ein Instrument ist, das man nutzen kann und muss, aber ich selbst war nicht an einem politischen Mandat interessiert. Sie müssen wissen: Ich war 1991 und auch 1993 auf den Barrikaden, als die Kommunisten zurück an die Macht wollten. Mir war klar: Wenn du etwas schützen möchtest, für etwas kämpfen möchtest, woran du glaubst, musst du auch bereit sein, es mit der Waffe in der Hand zu tun. – Ich bin kein Unternehmer im Schweizer Stil, wobei ich nicht so sicher bin, ob nicht auch die Schweizer Unternehmer ihre Waffen herausholen würden, wenn man ihnen ihre Unternehmen wegnähme.

 

2001 haben Sie in London die Stiftung Open Russia gegründet, Yukos zu einem transparenten Unternehmen gemacht und an die Londoner Börse gebracht, Sie haben mit amerikanischen und europäischen Ölfirmen über den Verkauf von Anteilen verhandelt. Alles nur Business?

 

1998 war ein traumatisches Jahr für mich. Ich habe erlebt, dass Menschen, für die ich verantwortlich war, vor Hunger ohnmächtig wurden. In Russland herrschte eine grosse Wirtschaftskrise; an einem Tag stieg der Wechselkurs von 6 auf 24 Rubel pro Dollar. In der Region in Sibirien, wo meine Fabrik stand, wurden viele Lebensmittel importiert, und die Preise vervierfachten sich binnen eines Tages. Da habe ich realisiert, dass ich es nicht mehr als Spiel sehen kann. Bis dahin war es wie ein Spiel, neu und aufregend. Und dann kommst du in die Fabrikhalle, die Leute machen dir noch nicht einmal Vorwürfe, und du sprichst mit einem, und plötzlich fällt der um.

 

Welche Konsequenzen haben Sie daraus gezogen?

 

Ich habe die Fabrik von Grund auf umgebaut. Produktion, Management, Aus- und Weiterbildung, einfach alles. Wir haben sogar Stellen geschaffen, um die Leute weiterzubilden, die wir entlassen mussten. Wir haben riesige Ausbildungsprogramme gestartet, allein 50 000 Lehrer in abgelegenen Regionen darin geschult, mithilfe des Internets zu unterrichten. Ironischerweise hat der Präsident eines dieser Programme mit einem Preis ausgezeichnet – einen Monat nachdem er mich ins Gefängnis gesteckt hatte.

 

Die Diskrepanz zwischen dem Reichtum der Oligarchen und der verarmten Bevölkerung haben Sie erst bei dieser Begegnung in der Fabrik realisiert?

 

Ja, vorher dachte ich immer, die Leute könnten sich allein versorgen. Wenn ich es kann, können sie es auch. Aber 1998 habe ich verstanden, dass ich verantwortlich war. Ich habe ihnen nicht genug gezahlt, damit sie genug Lebensmittel kaufen konnten. Ich war mir meiner gesellschaftlichen Verantwortung als Unternehmer bewusst geworden. Aber politische Ambitionen hatte ich damals nicht.

 

Im Gefängnis hätten Sie hart an sich gearbeitet, sagen Sie. Was haben Sie getan?

 

Ich habe viel gelernt. Um von dort aus mit der Gesellschaft kommunizieren zu können, musste ich lernen, meine Gedanken zu Papier zu bringen. Früher in der Schule haben mir meine Kameraden geholfen, Aufsätze zu schreiben. Ausserdem musste ich die Straf- und Prozessordnungen und eine Reihe von Gesetzen verstehen, um vor Gericht die Widersprüchlichkeit der Vorwürfe gegen mich aufzuzeigen – in unserem Land hört man traditionell nicht auf Anwälte. Auch habe ich im Gefängnis verstanden, dass die Zeit anders vergeht, als ich vorher dachte. Wenn wir frei sind, denken wir: Was wir nicht sofort tun, ist nicht gut. Aber im Gefängnis, wo die Zeit zwischen zwei Briefen oder Telefonaten Wochen betragen kann, gelangst du zu der Erkenntnis, dass es vielleicht doch nicht so eilt. Vielleicht kann so manches doch etwas warten. Und vielleicht wird das Ergebnis sogar noch besser.

 

Sie waren zehn Jahre im Gefängnis, nächstes Jahr sind Sie zehn Jahre frei. Was kommt Ihnen länger vor: Gefangenschaft oder Freiheit?

 

Das ist ziemlich interessant, mit dem Gefängnis. Man sagt: Jeder Tag im Gefängnis fühlt sich an wie die Ewigkeit. Aber die Jahre vergehen sehr schnell. Die zehn Jahre dort sind rückblickend viel kürzer als die, die ich in Freiheit verbracht habe. Es gibt viel weniger Fixpunkte, an denen sich die Erinnerungen festmachen können. Ich hätte diese Jahre sehr gern anders verbracht, aber ich kann nicht sagen, dass es verlorene Jahre sind.

 

Als Sie endlich herauskamen, war Putin immer noch da. Aus dem Banditen war ein Autokrat geworden, bald ein Diktator. Dieser Tage klingt er wie ein Faschist. Glaubt er, was er sagt, wenn er von westlicher Bedrohung, Entnazifizierung, Säuberung spricht?

 

Er glaubt zweifellos, gegen die Nato und die USA zu kämpfen. Er glaubt auch, dass auf der anderen Seite Nazis stehen. Vielleicht sind es Nazis, vielleicht auch nicht, auf jeden Fall sind es Feinde. Vor allem aber stagniert die Wirtschaft im Land, der Unmut unter den Jungen wächst, es geht nicht voran. Krieg ist für jeden Diktator ein Mittel, Popularität wiederzubeleben. Putin ist nicht dumm. Er weiss genau, dass er vom Kreml nur direkt ins Gefängnis gehen kann.

 

Die Politik scheint in Russland eine einzige Schlangengrube zu sein, in der nicht nur Oppositionellen Repression, Verhaftung und Ermordung drohen, sondern auch den Akteuren des Machtzirkels. Wie schafft Putin es, dort so lange den Kopf über Wasser zu halten?

 

Er überlebt genau so, wie er unter Banditen überlebt hat. Er formt verschiedene Gruppen und kreiert Konflikte untereinander, so dass die sich gegenseitig in Schach halten. Er bewegt sich in der Mitte davon. Wenn Sie auf einem Stuhl sitzen, der Sie mit einer solchen Machtfülle ausstattet, ist es sehr schwer, Ihnen etwas anzuhaben.

 

Muss sich spätestens nach dem Angriff auf die Ukraine nicht trotzdem jeder Einzelne fragen: Mach ich da noch mit? Putins Berater Anatoli Tschubais hat sich angeblich zurückgezogen und ist in die Türkei ausgewandert, was weltweit als Kritik an dem Krieg gedeutet wird. Auch Sergei Schoigu, der Verteidigungsminister, scheint verschwunden.

 

Tschubais wäre niemals gegangen, wenn er nicht Putins Erlaubnis gehabt hätte. Elwira Nabiullina, die Präsidentin der russischen Zentralbank, hat auch zurücktreten wollen, und sie durfte nicht. Also ist sie geblieben. So läuft es in einer Diktatur. In dem Moment, wo einer auch nur darüber nachdenkt, sich auszuklinken, ist er in Gefahr. Es ist unmöglich. Schoigu ist vielleicht nach Nordkorea gereist, um Waffen zu kaufen. Aber der ist da.

 

Warum erteilt Putin dem einen die Erlaubnis und dem anderen nicht? Tschubais’ Fortgang muss ihm doch wie Verrat vorkommen.

 

Ich weiss nicht, welche Vereinbarung sie getroffen haben, aber ich bin sicher, es gibt eine. Sollen wir uns darüber freuen, dass Tschubais still und leise gegangen ist? Ich finde nicht! Der Mann hat lange für Putin gearbeitet, und wenn er nicht öffentlich seinen Bruch mit ihm erklärt, können wir davon ausgehen, dass er weiterhin in seinen Diensten steht. Und das ist inakzeptabel. Es gibt viele andere Russen, die der Ukraine helfen, die sich nicht davor scheuen, Putin einen Verbrecher zu nennen, und die nun wirklich vor Repressionen fliehen müssen.

 

Hat Putin Menschen wie den deutschen Ex-Kanzler Gerhard Schröder bewusst instrumentalisiert?

 

Keine Frage. Das «Instrumentalisieren» «nützlicher Idioten» oder korrupter Beamter ist eine Standard-KGB-Methode.

Im August 2004 erwarteten Wladimir Putin und Gerhard Schröder in Sotschi am Schwarzen Meer den französischen Präsidenten Jacques Chirac zu einem Dreier-Gipfel. Neben dem Konflikt in Tschetschenien war auch Yukos Thema. Schröder äusserte in beiden Punkten keine Kritik.

 

Sie haben Ende Februar zusammen mit russischen Wissenschaftern, Historikern, Unternehmern, Schriftstellern und Journalisten das Antikriegskomitee Russlands gegründet. Was genau tun Sie?

 

Unser Kampf gilt dem Putin-Regime und dem Krieg gegen die Ukraine. Wir koordinieren unsere Positionen, unterzeichnen gemeinsame Erklärungen und versuchen vor allem Informationen an unsere jeweiligen Zielgruppen in Russland und im Ausland zu bringen. Auch wenn keine freie Presse mehr existiert, so gibt es doch Kanäle über Social Media, die wir bespielen können. Wir wollen versuchen, die Russen aufzuklären, aufzurütteln. Auch wenn sie sich aus gutem Grund nicht mehr zum Protestieren auf die Strasse trauen, fordern wir sie auf, im Alltag kleine Sabotageakte auszuführen, sich dem System zu verweigern, indem sie zum Beispiel ihre Arbeit schlecht oder gar nicht machen. Und wir helfen russischen Bürgern, die vor dem Putin-Regime flüchten müssen, sowie Ukrainern auf dem Territorium der Ukraine.

 

Von der Nato fordern Sie, den Himmel über der Ukraine zuzumachen. Hilft es der Ukraine, den dritten Weltkrieg zu provozieren?

 

Wenn wir Putin erlauben, in der Ukraine zu gewinnen, wird sich der Krieg auf Nato-Territorium fortsetzen, denn er kämpft heute schon gegen die Nato. Aus irgendeinem Grund denkt die Nato, dass es da eine Barriere in Putins Kopf gibt, aber eine solche Grenze gibt es für ihn nicht.

 

De facto ist die Nato aber noch nicht Kriegspartei und antwortet nicht militärisch auf den Angriff gegen ein Nicht-Nato-Land.

 

Putin denkt, dass die Nato dafür nicht den Mut haben wird.

 

Ist es ein Zeichen von Schwäche, eine Eskalation zu verhindern? Soll Putins verqueres Denken zum Maßstab des Handelns der Nato-Mitglieder werden?

 

Das ist ein Schlüssel-Missverständnis: Es gibt keine Wahl! Entweder du stoppst Putin genau dort in der Ukraine, oder

du musst dich ihm auf dem Boden der Nato-Länder stellen. In deinem Kopf kannst du denken, so viel du willst, dass du nicht involviert bist. Putin kämpft schon gegen dich. Er hat schon mehrmals gesagt: Das Ausbilden von ukrainischen Soldaten ist Krieg. Sanktionen sind Krieg. Bereitstellung von Waffen und Kampfmitteln ist Krieg. Auch wenn die Nato nicht antwortet, ist da kein Unterschied.

 

Wenn Sie in der Nato das Sagen hätten, würden Sie den Luftraum schliessen, Flugverbotszonen einrichten, Raketenabwehr bereitstellen – und einen militärischen Flächenbrand riskieren?

 

Schauen Sie, da war Vietnam, da war Korea, und jedes Mal gab es Konfrontationen in der Luft zwischen der Sowjetunion und den USA. Doch die Konflikte wurden gelöst. Und noch etwas: Es ist eine Tatsache, dass niemand Nato-Piloten haben möchte, denn die wissen nicht, wie man kämpft. Die Ukrainer wollen Nato-Waffen, mit deren Hilfe sie den Himmel zumachen können. Fliegen können sie selber. Und die Nato-Piloten, die qualifiziert sind, könnten sich ja ukrainische Uniformen anziehen.

 

Diplomatische Lösungen halten Sie für ausgeschlossen?

 

Ich gebe Ihnen noch ein Beispiel, wie Banditen ticken: Am Anfang meiner Karriere suchten einige Geschäftsleute Schutz bei Banditen, engagierten eigene kleine Armeen, denn die Polizei war zu schwach, um ihnen Schutz zu gewähren. Nur Banditen konnten dich vor anderen Banditen schützen. Aber all diese Leute, die um Schutz nachgesucht haben, nahmen ein böses Ende. Denn diese Banditen hören nie auf, niemals. Erst wenn sie auf eine adäquate Gegenkraft treffen, die sie fürchten! Worte bewirken gar nichts.

 

Seit Ausbruch des Krieges prophezeien Sie Putins Regentschaft ein nahes Ende. Wie wird das aussehen?

 

Putin hat einen Krieg begonnen, den er nicht gewinnen kann. Und russischen Machthabern sind militärische Niederlagen historisch nie gut bekommen. Entweder verliert Putin die Ukraine. Oder er besetzt sie und macht in den baltischen Staaten mit dem Krieg weiter und verliert dort. Eine andere Möglichkeit gibt es nicht. Ein Diktator kann gestoppt werden durch seinen Tod, die Leichen vieler Soldaten und eine nicht tragbare Last für die Wirtschaft.

 

Sie würden gern nach Russland zurückkehren, sagen Sie in der Filmdokumentation «Citizen K», und das Land ändern. Wie?

 

Ich kann nur zurück, wenn Putin weg ist. Und dann würde es sehr viel Arbeit geben, um sicherzustellen, dass kein anderer Putin auftaucht. Ich möchte, dass sich das Regime zu echter Föderation und echtem Parlamentarismus wandelt. Ich möchte Frieden für mein Land und seine Nachbarn. Ich möchte, dass Russen stolz sagen können, dass sie Russen sind, und sich nicht für die faschistische Gegenwart ihres Landes schämen müssen.

 

Was empfinden Sie eigentlich für Wladimir Putin? Hass? Verachtung?

 

Vor dem Krieg mit der Ukraine sah ich Putin als einen politischen Gegner, der übers Ziel hinausgeschossen ist, als er mich für zehn Jahre ins Gefängnis gesteckt hat, aber ich war dennoch bereit, es für den zivilen Frieden in Russland beiseitezulassen. Jetzt sehe ich ihn als Kriegsverbrecher und meinen Feind.

 

https://www.nzz.ch/gesellschaft/wir-muessen-ihn-jetzt-stoppen-putin-ist-laengst-im-krieg-mit-der-nato-ld.1677960?mktcid=nled&mktcval=174&kid=nl174_2022-4-9&ga=1

 






 

„Das ist eine ganz ernst gemeinte Kampfansage an den Westen“

 

Der Osteuropa-Historiker Karl Schlögel im Gespräch mit Alexander Marguier.

 

Alexander Marguier am 7. Juni 2024

 

Karl Schlögel ist einer der besten deutschen Russland-Kenner, viele seiner Bücher sind Standardwerke – beispielsweise „Das sowjetische Jahrhundert“ oder „Die Mitte liegt ostwärts“. Er war Professor an der Universität Konstanz und an der Viadrina in Frankfurt an der Oder – ist aber kein klassischer Studierzimmer-Gelehrter, sondern jemand, der sich sein Wissen über die Regionen, für die er sich interessiert und über die er forscht, durch zahlreiche ausgedehnte Reisen erschlossen hat.

 

Im Cicero Podcast Politik spricht Schlögel über seine erste Fahrt noch als Jugendlicher in die Sowjetunion und darüber, wie sich das Land im Verlauf der Jahrzehnte verändert hat. Es geht um das Verhältnis zwischen Russland und der Ukraine, um die Wesensmerkmale des „Putinismus“ sowie um die Frage, ob die russische Vielvölker-Föderation überhaupt zu Europa gehört und wie deren Zukunft nach einem möglichen Kriegsende aussehen könnte. Droht womöglich ein Zerfall – oder kommt es bestenfalls zu einer „Neugründung“ unter demokratischen Vorzeichen?

 

https://www.cicero.de/aussenpolitik/karl-schloegel-alexander-marguier-podcast-ukraine-russland-putin-steinmeier