Offener Brief an die SPD
„Noch möchte ich die Hoffnung nicht aufgeben“
Ob Bürgergeld, Migration, Klimaschutz oder Friedenspolitik: Die SPD ist dabei, sich als Volkspartei zu verabschieden. Was ihr nicht helfen wird, ist ein Gefühl der Überlegenheit. Sie muss wieder unterschiedliche Meinungen aushalten lernen – und darf dabei nicht vor schweren Entscheidungen zurückschrecken.
GASTBEITRAG VON ERWIN SELLERING am 10. September 2024 in CICERO ONLINE
Die Ergebnisse der Wahlen in Thüringen und Sachsen lassen befürchten: Die SPD hat die Orientierung verloren.
Stellt sie sich noch der Aufgabe als Volkspartei – für alle da zu sein, zusammenzuführen, auf die Sorgen und Ängste
aller einzugehen, für Gemeinschaft und Zusammenhalt zu sorgen, gute Lebenschancen für alle zu schaffen?
Daran kann man Zweifel haben.
Eine Volkspartei definiert sich nicht durch Zustimmungszahlen bei den Wahlen. Das Entscheidende einer Volkspartei ist: Sie ist keine Klientel-Partei. Sie ist nicht nur für eine Minderheit da, die sich für moralisch besser hält als andere. Eine Volkspartei muss sich als Anwalt aller begreifen, für alle da sein, widerstreitende Interessen ausgleichen. Sie muss ein Wir-Gefühl vermitteln. Sie muss zeigen, dass wir als Gesellschaft zusammenhalten und die Probleme gemeinsam lösen wollen und können.
Das Handeln der SPD in den letzten Jahren weckt große Zweifel, ob dies noch ihrem Selbstverständnis entspricht.
Das gilt besonders für die Rolle der SPD in der Ampel. Beide Partner der SPD sind im Kern Klientel- und eben keine Volksparteien. Sie suchen ihr Heil in der Nische. Und die Grünen halten ihre Nische sogar für das Ganze. Eine Minderheit, die will, dass alle in der Gesellschaft so werden wie sie, kann niemals eine Volkspartei sein.
Die Aufgabe der SPD in der Ampel muss es deshalb sein, Klientel-Interessen zurückzuweisen und das Ganze zu verkörpern: das Gemeinwohl. Dieser Aufgabe wird sie derzeit nicht mehr gerecht. Was wirklich nötig wäre, lässt sich am besten mit einem Beispiel aus dem Sport veranschaulichen: Dem Fußballtrainer Jürgen Klopp ist es mit bemerkens-werter Leichtigkeit gelungen, auch die Diven und Egomanen in seinem Team von seiner Spielidee zu überzeugen.
Sie zu einer positiven, mannschaftsdienlichen Spielweise zu bringen und dabei noch Stolz und Freude über das gemeinsame Spiel zu vermitteln. Einen Jürgen Klopp der Politik hat die SPD derzeit leider nicht. Und trotzdem hat sie fünf Aufgaben.
1. Ein soziales Deutschland
Das jahrzehntelange Herzensanliegen der Sozialdemokraten ist für sehr viele Menschen im Land nicht mehr als vordringliches Ziel der SPD erkennbar. Als sozial und gerecht wurde es immer verstanden, dass jenen geholfen wird,
die sich nicht selbst dabei helfen können, ihren Weg zu machen. Es ging der SPD historisch immer um Fleiß und Leistung zum Wohle aller. Es ging ihr um den Ausgleich ungerechtfertigter Benachteiligungen.
Die Idee der Sozialdemokratie war es also seit ihrer Gründung, faire Chancen für alle zu organisieren, die guten Willens sind – und gerade nicht, unterschiedslos Sozialleistungen an alle zu verteilen. Die Sozialdemokratie war immer eine Partei, die in diesem Sinne für Chancengleichheit und Leistungsgerechtigkeit gleichermaßen eingetreten ist.
Viele Menschen haben inzwischen aber den Eindruck gewonnen, dass dies nicht mehr der Fall ist. Die SPD darf sich deshalb über ihre Wahlergebnisse auch nicht beschweren und die Wähler beschimpfen. Sie muss stattdessen einfach besser werden.
Es geht nicht nur um das Problem, dass aus dem Bürgergeld längst de facto ein bedingungsloses, leistungsloses Grundeinkommen geworden ist. Eine Tatsache, die mit der Idee der Sozialdemokratie einfach unvereinbar ist. Und es geht auch nicht nur darum, dass Vermögende und Besserverdienende in unserem Land weniger zum sozialen Ausgleich beitragen als anderswo auf der Welt.
Wissenschaftliche Studien belegen zudem, dass der deutsche Sozialstaat sogar so ungerecht ausgestaltet ist, dass Familien mit zwei Kindern regelrecht bestraft werden, wenn sie mehr arbeiten und mehr Geld verdienen: Ihnen wird vom Sozialstaat dann häufig wieder weggenommen, was sie zusätzlich verdient haben. Das muss sich dringend und sehr schnell ändern.
Denn das alles kann nicht richtig sein: Wer sich anstrengt, muss belohnt werden. Wer sich weigert, zum Gemeinwohl beizutragen, muss die Konsequenzen tragen. Und mit wem es das Leben gut gemeint hat, der muss einen größeren Anteil seines Einkommens für die Allgemeinheit abgeben als andere. Leistungsbereitschaft und soziale Gerechtigkeit gehören für eine moderne Sozialdemokratie stets zusammen.
Dazu gehört auch, von Flüchtlingen erwarten zu dürfen, dass sie für ihren Lebensunterhalt möglichst selbst sorgen und sich an die Regeln halten, die hier in Deutschland gelten. Wer folgenlose Sonntagsreden von Politikern kritisiert oder dass nicht alle Flüchtlinge bereit sind, ihren Beitrag zu unserer Gesellschaft zu leisten, darf nicht moralisch ins Abseits gestellt werden. Im Kern nämlich hat, wer das sagt, damit Recht und verteidigt in Wahrheit die Idee der sozialen Demokratie: Niemand soll auf Kosten des Anderen leben. Und das gilt in alle Richtungen.
2. Migration
Beim Thema Migration ist die öffentliche Stimmung nach den Morden von Solingen mehr als aufgewühlt. Als Reaktion aus der Politik ist plötzlich von „raschen Lösungen“ die Rede, die entgegen früherer Beteuerungen schon längst möglich gewesen wären. Das schafft kein Vertrauen.
Niemand darf mit seiner verständlichen Angst alleingelassen werden. Das alles verlangt eine klare und kluge Führung. Kaum ein anderes Thema enthält so viel gesellschaftlichen Sprengstoff. Kaum ein anderes Thema verlangt so sehr nach einem von allen geteilten Kompromiss. Vor allem dieser Aufgabe muss sich die führende Regierungspartei SPD stellen, wenn sie auch in Zukunft noch eine Volks- und keine Splitterpartei sein will.
Dabei ist eines klar: Das Gewähren von Asyl für tatsächlich politisch Verfolgte ist eine selbstverständliche moralische Pflicht. So, wie viele der von den Nazis bedrohten Flüchtlinge aus Deutschland einst vor allem in England und Amerika Schutz und Aufnahme gefunden haben, muss auch Deutschland heute seiner moralischen Verantwortung nach-kommen. Für diese Haltung gibt es – noch – eine breite politische Mehrheit in der deutschen Bevölkerung.
Aber die Gewährung politischen Asyls muss sich eben auf die tatsächlich Verfolgten beschränken. Und das ist nur ein sehr geringer Prozentsatz derjenigen, die heute ungeordnet und zu großen Teilen illegal zu uns zu drängen. Wird dieses Problem nicht zeitnah gelöst, provoziert die Politik, dass das Wahlvolk auch vom Asylrecht im engeren Sinne bald nichts mehr wissen will.
Wer über streng kontrollierte Flughäfen des angeblichen „Verfolgerstaates“ ausreisen konnte oder wer nach eigener Einschätzung gefahrlos zu Familienfeiern oder Urlaubsaufenthalten dorthin zurückkehren kann, der braucht unseren Schutz jedenfalls nicht. Man sollte den Wähler nicht für dumm verkaufen.
Viele drängen außerdem einfach nur deshalb in unser Land, weil sie sich bessere Lebensbedingungen versprechen. Das ist verständlich. Und dennoch können wir das nicht einfach hinnehmen, ohne unsere Demokratie zu gefährden. Wenn eine klare Mehrheit in Deutschland sagt: „Humanitäre Hilfe für Fremde darf nicht zu unbewältigbaren Problemen und Benachteiligungen der eigenen Bevölkerung führen“, dann muss das auch ernst genommen und berücksichtigt werden. Für Trittbrettfahrer und Glücksritter ist in unserem Land kein Platz.
Darüber hinaus bietet der ungeordnete Zustrom von Flüchtlingen nach Deutschland auch Extremisten und Terroristen Möglichkeiten, auf zunächst unverdächtige Weise in unser Land zu kommen. Diese ernsten Gefahren müssen ein vordringliches Handlungsfeld für Polizei und geheimdienstliche Abwehrtätigkeit sein.
Die klare Mehrheit der Menschen in unserem Land hat kein Verständnis dafür, wenn humanitäre Wunschvorstellungen die Regierung an entschlossenem Handeln hindern. Oder wenn administrative Schwierigkeiten und Versäumnisse immer wieder zu Bedrohungslagen führen. Die Regierung dieses Landes muss für klare und sichere Verhältnisse sorgen. Sonst verliert sie die Menschen und die Zustimmung zur Demokratie.
3. Klimaschutz
Wegen all dieser wichtigen und als beängstigend empfundenen Themen droht die existenzielle Frage des Klimaschutzes zunehmend aus dem Blick zu geraten. Klimaschutz ist aber die wichtigste Überlebensaufgabe weltweit. Wir müssen sie im Interesse unserer Kinder, Enkel und Urenkel gemeinsam angehen.
Die Grünen sehen sich als Vertreter einer Minderheit, die sich dennoch als Vorkämpferin für die einzig wahre, schöne und gute Strategie beim Schutz des Klimas versteht. Notfalls müsse man der Mehrheit eben einfach gesetzlich diktieren, was gut für sie sei. Klimaschutz wird aber nur gelingen, wenn nicht einfach nur verordnet und vorgeschrieben wird, noch dazu mit dem Gestus einer Art Verachtung für die große Mehrheit der Gesellschaft. Klimaschutz darf kein elitäres Sonderthema einer sich moralisch überlegen fühlenden Minderheit sein. Sonst scheitert sie.
Die führende Regierungspartei SPD muss sich dieses Thema als Volkspartei endlich zu eigen machen. Sie muss deutlich zeigen, dass sie für dieses Thema steht und dass es ihr bei diesem Politikfeld trotzdem darum geht, die Folgen für den Einzelnen im Blick zu behalten und niemanden unzumutbar zu belasten.
Es braucht daher einen klaren Gesamtplan, für den die Regierung breit wirbt und notfalls über viele Jahre hinweg Überzeugungsarbeit leistet. Es geht darum, möglichst alle mitzunehmen. Davon ist Deutschland heute weit entfernt.
Es ist beschämend, dass es erst eines Einschreitens der Gerichte bedurfte, damit die Regierung überhaupt Schritte in diese Richtung unternimmt. Und die Umsetzung des gerichtlichen Auftrages geschieht erkennbar „mit spitzen Fingern“.
Beim Klimaschutz treten die Schwächen eines Politikstils zutage, der vordringlich auf Ereignisse reagiert, in kurzfristigen Schlagzeilen denkt und auf medienwirksame Schlagworte setzt. Stattdessen bräuchte es eine auf lange Frist angelegte Strategie. Sie müsste sich um das sachlich Erforderliche ebenso eindringlich kümmern wie um die Zustimmung durch das Wahlvolk. Demokratische Politiker sollten davon Abstand nehmen, sich für intellektuell und moralisch überlegen zu halten. Wo immer sie es dennoch tun, werden sie auf Dauer scheitern.
Es gibt derzeit einfach kein stimmiges Konzept, das mit Überzeugung von der Regierung insgesamt vertreten würde und von dem man die Menschen überzeugen könnte. Wer die klimafreundliche Elektrifizierung der Gesellschaft will, muss erst für die entsprechende Infrastruktur und preiswerten Strom sorgen. Erst dann kann auch mit breiter gesellschaftlicher Mehrheit Schritt für Schritt die Umstellung des Energieverbrauchs von fossilen auf erneuerbare Energien gelingen.
Wer stattdessen den zweiten vor dem ersten Schritt geht und mit dem Kopf durch die Wand will, gefährdet nicht nur die politischen Mehrheiten für Klimaschutz. Er fährt gleichzeitig die Wirtschaft des Landes an die Wand. Wie man es auf keinen Fall machen sollte, hat die Bundesregierung beim „Heizungsgesetz“ gezeigt.
4. Frieden in einer unüberschaubar gewordenen Welt
Für die Wahlen in Thüringen und Sachsen hat die Forderung nach Frieden mit Russland eine wichtige, für den Erfolg des „Bündnis Sahra Wagenknecht“ (BSW) sicherlich sogar die entscheidende Rolle gespielt. Dieses Bedürfnis nach Frieden muss daher ernst genommen werden.
Zwar ist klar und unbestreitbar, dass dieser Krieg von Russland vom Zaun gebrochen worden ist. Es handelt sich um einen schlimmen völkerrechtswidrigen Überfall auf die Ukraine und fortdauernden furchtbaren Angriff gegen deren Zivilbevölkerung. Das Handeln Russlands ist vorbehaltlos und ohne jede Relativierung zu verurteilen.
Allerdings darf auch nicht unerwähnt bleiben, dass es eine Vorgeschichte für all dies gibt, an der auch der politische Westen nicht unbeteiligt ist. Natürlich kann all dies moralisch nicht das Verhalten Russlands entschuldigen. Aber es ist eben auch nicht ausgeschlossen, dass es möglicherweise gar nicht soweit gekommen wäre, falls der Westen die Sicherheitsinteressen Russlands frühzeitig respektiert hätte.
Auch nach mehr als zwei Jahren Krieg in der Ukraine wollen viele dies noch immer nicht wahrhaben. Aber es nützt nichts, vor der Realität die Augen zu verschließen. Dadurch kann sie nicht zum Verschwinden gebracht werden. Noch immer stehen sich heute in Deutschland diejenigen, die ein Ende des Krieges durch einen Rückzug Russlands militärisch erzwingen wollen, und diejenigen, die auf Verhandlungen setzen, meist unversöhnlich gegenüber.
Wie lässt sich das zusammenführen? Wie kann es Verständnis geben für die jeweils andere, für völlig falsch gehaltene Überzeugung?
Eine dem Ganzen verpflichtete Regierungspartei jedenfalls kann sich nicht ausschließlich für die eine oder andere Position stark machen. Es braucht Offenheit und Verständnis für beide Seiten und die Erkenntnis, dass es trotz aller Unterschiede dennoch ein gemeinsames Ziel und eine gemeinsame Überzeugung gibt: Russland dazu zu bewegen, seinen völkerrechtswidrigen Angriff zu beenden.
Wichtig ist daher, nicht in den Chor derer einzustimmen, die den in den Wahlergebnissen in Thüringen und Sachsen zum Ausdruck kommenden Wunsch nach Frieden als ostdeutsche Verblendung abtun wollen. Die derzeitige öffentliche Debatte läuft nicht selten in unerträglicher Weise von oben herab. Immer wieder gibt es den Tenor, der Osten brauche eben noch etwas demokratische Nachhilfe aus dem Westen. Ist aber nicht die Kriegsbereitschaft im Westen eher zu hinterfragen als die Friedensüberlegungen im Osten?
Wichtig ist auch, die Forderungen nach Frieden nicht als populistische Forderung der rechtsextremen AfD oder des BSW zu diskreditieren. Gewiss ist die wachsende Offenheit für rechtsextremistisches Gedankengut ein großes und dringendes Problem in Deutschland, besonders in den ostdeutschen Ländern. Der richtige Weg der Auseinandersetzung kann aber generell nicht moralisch überhebliche Verteufelung sein und die Verweigerung jeglicher inhaltlicher Auseinandersetzung, egal zu welchem Thema. Stattdessen braucht es auf allen Politikfeldern überzeugende eigene Politik, einen erfolgreichen Einsatz für unseren Staat, für unsere Gemeinschaft, für die Menschen mit ihren Sorgen und Zielen. Die SPD muss ein überzeugendes Angebot für alle machen, das nicht ausgrenzt, sondern alle einbezieht.
Die SPD hat eine lange Friedensgeschichte. Wenn sie das verleugnet und als gestrige Naivität abtut, wird sie rasch – und dann auch zu Recht – in der Bedeutungslosigkeit versinken. Möglicherweise gilt ja auch für viele in der SPD noch immer, was die frühere Friedensbewegung unter dem Eindruck der Kriege in Korea und Vietnam einst über die ewigen Kriege des „Universal Soldier“ sang: „This is not the way to put an end to war“.
5. Die zukünftige Rolle Deutschlands in der Welt
Der Wunsch, zum Frieden in der Welt beizutragen, sollte Richtschnur für die Wahrnehmung der zukünftigen internationalen Rolle Deutschlands sein. Wir leben in einer sich rasch verändernden Welt mit neuen, aufstrebenden Nationen, deren Ansprüche und Forderungen nach Einfluss mit neuen Konflikten und Auseinandersetzungen verbunden sein werden. Dadurch wird die Frage, wie Frieden erreicht und vor allem bewahrt werden kann, existenziell für uns alle.
Deutschland und Europa müssen bei klarer Bindung an die freiheitlichen Werte des Westens und bei weiter bestehender enger Zusammenarbeit mit den USA im 21. Jahrhundert trotzdem ihren eigenen Weg gehen lernen.
Das kann nicht die Rolle einer militärischen Ordnungsmacht überall auf der Welt sein, auch nicht in einer nur unterstützenden Rolle für die USA als Hilfs-Sheriff bestehen. Schon deshalb führt der Begriff „Kriegstüchtigkeit“, der seit Monaten in Deutschland die Runde macht, in die Irre. Deutschland muss nicht an seiner „Kriegstüchtigkeit“, sondern an seiner „Friedensfähigkeit“ arbeiten.
Und ja, dazu kann es auch gehören, die Bundeswehr besser auszustatten als bisher. Aber nicht, um Kriege zu führen, sondern um aus einer Stärke heraus und als ehrlicher Makler den Frieden zu verteidigen. Es darf nicht um Belehrung anderer Staaten gehen, sondern um ein bestmögliches Miteinander.
Das wird schwer in einer Welt, in der vor allem Social Media voller Ausgrenzung und Hass ist, in der so viele nur ihre Wahrheit sehen und nach Gründen für Mord und Krieg suchen. Aber es ist das einzig lohnende Ziel, das verantwortliches Handeln in dieser Welt haben kann. Und es ist das lohnendste Ziel, das sich für verantwortliches politisches Handeln überhaupt denken lässt.
Noch ist Zeit – wie lange noch?
Die Sozialdemokratie ist die älteste deutsche Partei. Ohne sie gäbe es heute keinen gut ausgebauten Sozialstaat, und ohne die Ostpolitik Willy Brandts vielleicht nicht einmal die deutsche Einheit. Die SPD wird auch weiterhin gebraucht – von allen Menschen, die sich nicht selbst helfen können, aber eine echte und faire Chance verdient haben. Und von allen, die auf ein gutes Miteinander und Frieden in dieser Welt Wert legen.
Was der SPD nicht helfen wird, ist ein Gefühl der Überlegenheit. Die Überzeugung also, man sei klüger und moralisch besser als der Rest der Gesellschaft. Das einzige, was der SPD helfen kann, ist, zu ihren Wurzeln zurückzufinden: zur Idee der Volkspartei. Sie muss wieder unterschiedliche Meinungen aushalten lernen, um sie konstruktiv zu einem gesellschaftlichen Kompromiss zu führen. Und sie darf dabei auch nicht vor schweren Entscheidungen zurückschrecken.
Findet sie in absehbarer Zeit nicht zur Idee der Volkspartei zurück, könnte ihr Ende als die historisch wichtigste politische Kraft Deutschlands auf immer besiegelt sein. Noch möchte ich die Hoffnung nicht aufgeben, dass sich das noch verhindern lässt. Denn die Partei von August Bebel und vielen anderen wird noch immer gebraucht.
Noch ist Zeit. Aber vielleicht nicht mehr lange.
Erwin Sellering ist Jurist und Politiker (SPD). Von 2008 bis 2017 war er Ministerpräsident von Mecklenburg-Vorpommern.