Václav Havel

 

Des Kaisers neue Kleider: Václav Havel und das Leben in Wahrheit

 

Am 17. November begeht Tschechien den 20. Jahrestag des Zusammenbruchs der kommunistischen Alleinherrschaft. Eine brutal auseinander getriebene Kundgebung von Studenten löste an jenem Tag eine Welle von Massenprotesten aus. Diese führten den Umbruch herbei. Der Systemwechsel zur pluralistischen Demokratie wird gemeinhin als „Samtene Revolution“ bezeichnet. Mitgewirkt haben an der Samtenen Revolution viele. Ohne einen aber wäre sie schlicht undenkbar: Václav Havel. Der Dramatiker und Bürgerrechtler hatte schon zuvor viele Jahre auf Rechtsstaatlich-keit und Demokratie in seinem Land hingewirkt. Václav Havel und seinem Einsatz für ein Leben in Freiheit ist das heutige Geschichtskapitel gewidmet.

 

Ein Gemüsehändler bringt im Schaufenster seines Ladens zwischen Zwiebeln und Möhren ein Spruchband an. Darauf steht: „Proletarier aller Länder, vereinigt euch“. Warum tut er das? Ist er wirklich von der Idee der Vereinigung der Proletarier aller Länder überzeugt? – Václav Havel bezweifelt dies in seinem Essay „Versuch, in der Wahrheit zu leben“. Die meisten Gemüsehändler hätten über die Spruchbänder in ihren Schaufenstern nie nachgedacht, mutmaßt Havel. Sie hängten sie auf, weil alle es taten, weil es so sein musste. Der Gemüsehändler sende damit ein Signal an die Obrigkeiten, fährt Havel fort. Er bekunde seine Loyalität. Was ihn jedoch tatsächlich antreibe, sei, dass er Angst habe und deshalb bedingungslos gehorche, so Havel.

 

„Die Ideologie ist ein Schleier, mit dem der Mensch seinen Existenzverfall, seine Verflachung und Anpassung an die gegebene Lage verschleiern kann. Sie ist ein Alibi, das für alle verwendbar ist. Von dem Gemüsehändler, der um seine Stellung fürchtet, bis zum höchsten Funktionär, der sein Interesse, sich an der Macht zu halten, in Worte von seinem Dienst an der Arbeiterklasse kleiden kann“, heißt es in „Versuch, in der Wahrheit zu leben.“

 

Würde der Gemüsehändler das Spruchband aus der Auslage entfernen, so wäre ein Schritt zum Leben in Wahrheit und Freiheit getan, analysiert Havel. Ein Leben in Wahrheit und Freiheit, das war das Ziel, für das der Schriftsteller und Bürgerrechtler kämpfte. Die Maske der ideologischen Phrase anzulegen hingegen bedeutete Havel zufolge, in der Lüge zu leben. Denn die marxistisch-leninistische Ideologie, so Havel, diene lediglich dazu, um einen Abgrund zu verdecken:

 

„Das Leben tendiert in seinem Wesen zur Pluralität, zur Vielfarbigkeit, zur Unabhängigkeit, einfach zur Freiheit. Das totalitäre System dagegen verlangt monolithische Einheit, Uniformität und Disziplin.“

 

Was der totalitäre Staat zu seiner Machterhaltung forderte, vertrug sich schlecht mit dem, was der Einzelne für ein erfülltes Leben brauchte. Václav Havel bekam diesen Abgrund selbst drastisch zu spüren. 1936 wurde er als Sohn eines Bauunternehmers in Prag geboren. Als er zwölf Jahre alt war, ergriffen die Kommunisten in der Tschechoslowakei die Macht. Havel, dem Sprössling einer großbürgerlichen Familie, blieben höhere Schulen verschlossen. Er wurde Arbeiter, war Assistent in einem Labor. Doch das lief seiner Identität, seiner Vorstellung von sich selbst und seinem Leben, zuwider. Er schrieb Lyrik, Aufsätze für Literaturzeitschriften, fühlte sich zum Schriftsteller berufen.

 

1960 kam der junge Autor am Prager „Theater am Geländer“ unter. Angestellt wurde er als Bühnenarbeiter. Doch Havel gelang es, die Schere zwischen zugewiesener sozialer Rolle und selbst bestimmter Identität zu schließen: Er setzte sich als Dramaturg und Hausautor des Theaters durch. Sein erstes abendfüllendes Stück war das „Gartenfest“. Es geht darin, wie könnte es anders sein, um einen Menschen, der seine Identität verliert - gefangen im Mechanismus der Phrase.

 

Am 21. August 1968 marschierten Truppen des Warschauer Pakts in Prag ein.

 

„Diese Nacht wird nicht kurz sein. Den Wolf gelüstet es nach einem Lamm. Hast du die Pforte verriegelt, mein Freund?“, singt der Liedermacher Karel Kryl in einem Protestlied. Der Prager Frühling war niedergewalzt, der Versuch, einen Sozialismus mit menschlichem Antlitz zu schaffen, gescheitert. Für Václav Havel nahm die Zeit künstlerischer Selbstverwirklichung am Theater ein abruptes Ende. Er wurde mit Publikations- und Aufführungsverbot belegt. Die nun folgenden Siebzigerjahre, im Jargon der Machthaber „Normalisierung“ genannt, beschreibt Václav Havel in seinem autobiographischen Werk „Fernverhör“ so:

 

„Nach dem großen Aufbäumen des Jahres 1968, der sowjetischen Intervention und ihrem zermürbenden Nachspiel löste Husák Dubček ab, und bald begann ein Zeitraum leichenhafter Stille. Die altneue herrschende Garnitur führte Säuberungen, Verbote und Auflösungen durch. Die Menschen zogen sich in sich zurück. Es beginnt die Ära der Apathie und der Demoralisierung. Mir verschwimmt die erste Hälfte der Siebzigerjahre in einem einzigen konturlosen Nebel. Ich wurde von überall vertrieben, wurde öffentlich als Feind bezeichnet und sogar wegen Untergrabung der Republik angeklagt.“

 

Havels Werke wurden nur noch durch verbotene Selbstdrucke und Abschriften verbreitet. Erneut klaffte der Abgrund zwischen selbst gewähltem Lebensinhalt und totalitärem System auf. Doch die Okkupation der Tschechoslowakei hatte den Westen sensibilisiert. Havel als Vertreter der unabhängigen tschechoslowakischen Kultur fand bei westlichen Bühnen und Verlagen Beachtung.

 

Im eigenen Land wurde dagegen auch die leiseste unabhängige Äußerung im Keim erstickt. 1976 schritten die Behörden gegen die Rockgruppe „The Plastic People of the Universe“ ein. Ivan Martin Jirous, der Manager der Gruppe, und die Musiker wurden vor Gericht gestellt. Bei Václav Havel schellten die Alarmglocken. Denn hier handelte es nicht darum, dass die Machthaber einen politischen Gegner zum Schweigen bringen wollten. Die unkonventionellen, langhaarigen Musiker waren gänzlich unpolitisch. Sie wollten nichts weiter, als die Musik spielen, die ihnen gefiel.

 

Václav Havel verstand die Repressionen gegen die Gruppe „The Plastic People of the Universe“ als einen Angriff, der das Leben selbst bis ins Mark traf. Und das gehe alle etwas an, fand Havel, denn die Freiheit sei unteilbar. Er mobilisierte Unterstützung für die Plastic People. Der Prozess gegen die Rockgruppe wurde so zum Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Die Charta 77 erblickte das Licht der Welt. Havel wurde einer ihrer Sprecher. Das Dokument forderte die Einhaltung der Menschenrechte und der bürgerlichen Grundfreiheiten. Die Charta 77 pochte dabei lediglich darauf, die geltenden Gesetze zu respektieren. Die Unterzeichner nahmen die Regierenden beim Wort und entlarvten so das formale Rechtssystem als bloßen Schein. Sie demaskierten den Unrechtsstaat. Sie zeigten mit dem ausgestreckten Finger auf des Kaisers neue Kleider und riefen: „Der Kaiser ist nackt.“

 

Hunderte Bürger unterzeichneten die Charta 77. Sie nahmen dafür den Verlust des Arbeitsplatzes in Kauf, wurden schikaniert, ihre Familien verfolgt. Václav Havel verbrachte über vier Jahre hinter Gittern. Ein greifbarer Erfolg der Charta 77 war nicht in Sicht, doch die Bürgerrechtler gaben sich nicht geschlagen:

 

„Die Konfrontation von tausend Chartisten mit dem System sieht hoffnungslos aus. Doch niemand kann heute genau abschätzen, was die Auftritte der Charta 77 bewirken. Wie sich der Versuch auswirkt, das Selbstbewusstsein der Bürger der Tschechoslowakei wieder aufzurichten“, schreibt Havel hierzu in seinem Essay „Versuch, in der Wahrheit zu leben“.

 

Die Charta verlieh dem Kampf der Bürgerrechtler eine bewusste, strukturierte Form. In den folgenden Jahren monierten sie immer wieder Rechtswidrigkeiten der Staatsorgane. Die Charta 77 wurde zu einem Instrument der dauernden Kontrolle der Macht. Havel und seine Mitstreiter kämpften nicht nur für ihre eigene Freiheit, sondern für die aller. Sie glaubten an die Unterstützung einer wachsenden Zahl von geheimen Sympathisanten. Havel sprach von der „verborgenen Sphäre“ des Gewissens, der Wahrheits- und Freiheitsliebe. Gegen Ende der Achtzigerjahre regte sich schließlich unter der toten Oberfläche der Scheinordnung immer mehr Leben. Neue Verlage entstanden, Bürgerinitiativen wurden gegründet, es kam zu Demonstrationen. Havel im „Versuch, in der Wahrheit zu leben“:

 

„Diese Keimzellen eines unabhängigen Lebens sind wie kleine Boote im Ozean des manipulierten Lebens. Sie werden vom Wellengang hin und her geschleudert. Doch sie tauchen immer wieder auf. Sie sind sichtbare Boten des Lebens in Wahrheit.“

 

Im November 1989 bricht sich die aufgestaute Unzufriedenheit der Menschen in Massenkundgebungen die Bahn. Der Willkürherrschaft der Kommunisten läutet die Totenglocke. Das oppositionelle Bürgerforum wird gegründet. Havel tritt an seine Spitze. Längst ist er zum Hoffnungsträger all jener geworden, die den Systemwechsel herbeisehnen. Am 29. Dezember wählt das Parlament – in der alten Zusammensetzung – Václav Havel zum Staatspräsidenten.

 

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